HINTERGRUND
Im August 2017 wechselte Paulinho für 40 Millionen Euro vom chinesischen Erstligisten Guangzhou Evergrande zum großen FC Barcelona. Experten und Fans rieben sich gleichzeitig die Augen, der mediale Tenor fiel vernichtend aus. Man war sich einig: Da nimmt der Klub 222 Millionen Euro für Neymar ein und reinvestiert ein knappes Fünftel in einen abgehalfterten 29-Jährigen, der zuletzt irgendwo in den Reich-der-Mitte-Niederrungen kickte. In den sozialen Medien entwickelte sich ein Sturmlauf der Wut gegen die Führungsriege Barcas, laut einer Umfrage der Mundo Deportivo sprachen sich satte 90 Prozent der Anhänger gegen einen Transfer aus.
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Neun Monate später setzte erneut ein kollektives, diesmal positiv überraschtes, Augenreiben ein. Der Brasilianer hatte sich bei den Katalanen zum Leistungsträger gemausert, belegte 2017/18 mit neun Toren sowie drei Vorlagen Rang drei der mannschaftsinternen Scorerliste, hinter Lionel Messi und Luis Suarez.
Kurz gesagt: Paulinho avancierte binnen kurzer Zeit vom Verhöhnten zum umjubelten Liebling. Meister wurde er mit den Blaugrana nebenbei auch noch, ehe er wiederum überraschend im Sommer 2018 den Weg zurück machte und wieder nach China wechselte, seither dort für Guangzhou Evergrande spielt.
Jedenfalls: Beinahe wäre es niemals zu dieser schier unglaublichen Leistungsexplosion damals in Barcelona gekommen. Zu Beginn seiner Karriere spielte der Mittelfeldmann mit dem Gedanken, selbige zu beenden, noch bevor sie überhaupt ansatzweise Fahrt aufgenommen hatte.
Paulinho: "Nein, ich spiele nicht mehr"
"Ich habe ihm damals gesagt, dass ich nicht mehr spielen will. Er rief immer und immer wieder an, aber ich sagte: 'Nein, ich spiele nicht mehr'", erinnerte sich Paulinho kurz vor Weihnachten 2017 im Gespräch mit dem britischen Guardian. Derjenige, der immer und immer wieder anrief, war der Präsident seines Heimatvereins in Brasilien, Par de Acucar, der mittlerweile Gremio Osasco Audax heißt. Er wollte seinen ehemaligen Schützling zurückholen, der zu diesem Zeitpunkt, übrigens im Alter von gerade einmal 19 Jahren, eine wahrhaftige Odyssee in Europa erlebt hatte.
Die Geschichte begann im Sommer 2006: Paulinho träumte von der großen Karriere als Fußballer, die sich - so zumindest seiner Meinung nach - in Übersee um ein Vielfaches besser forcieren ließe als in Brasilien. Par de Acucar gab sein Eigengewächs auf Leihbasis frei, das daraufhin zum litauischen Hauptstadtklub FC Vilnius, wo in jener Zeit gleich mehrere Brasilianer das gleiche Ziel verfolgten, wechselte. Fernab der Heimat, im kalten und nicht unbedingt für seine hohe fußballerische Relevanz bekannten Baltikum, erlebte der Kicker vom Zuckerhut die Schattenseiten des Geschäfts bereits in jungen Jahren kennen.
"Ich kann mich noch ganz besonders an zwei Spiele erinnern", erklärte Paulinho im Interview mit The Independent und führte aus: "Als ich das Feld betrat, machten die Zuschauer auf den Rängen Affengeräusche und warfen mit Münzen nach mir. Ich dachte mir in diesen Momenten einfach nur: 'Das muss ich nicht tolerieren.' Also fasste ich den Entschluss, mein Glück woanders zu suchen."
GettyPaulinho mit seinen beiden KindernWeiterhin mit der Hoffnung ausgestattet, es in Europa ganz nach oben zu bringen, heuerte der Youngster bei LKS Lodz in Polen an. Ausgerechnet bei einem Verein, der in großen finanziellen Schwierigkeiten steckte. "In Litauen wurde ich rassistisch beleidigt, in Polen konnten sie mein Gehalt nicht zahlen", so Paulinho gegenüber dem Guardian. Darüber hinaus von Heimweh geplagt und in dem Wissen, dass seine schwangere Frau in Begriff war, das gemeinsame Kind ohne ihn zu bekommen, kehrte er auch der einstigen Textilhochburg westlich von Warschau den Rücken. "Ich ließ meine Familie wissen, dass ich nie wieder Fußball spielen werde."
"Hatte das Vertrauen, die Hoffnung verloren"
Wieder zurück in vertrauten Gefilden, blieb Paulinho zunächst dabei, schwor seiner großen Leidenschaft ab. Trotz der ständigen Avancen Par de Acucars, war seine Entscheidung gefallen. "Als ich zurück war, hatte ich das Vertrauen, die Hoffnung verloren. Im Grunde war ich drei Wochen lang gefangen in meinen Depressionen und Traurigkeit“, verriet er und ergänzte: "Ohne Selbstvertrauen kann man nicht an seinen großen Träumen festhalten."
Einzig seine Frau Barbara glaubte noch daran, dass Paulinho die Segel verfrüht strich. Beharrlich redete sie auf ihn ein, es doch weiter zu probieren. "'Was willst Du denn sonst machen?', fragte sich mich. Ich antwortete, dass ich es nicht weiß. Dann sagte sie: 'Das einzige, was Du wirklich gut kannst, ist Fußballspielen.' Und damit hatte sie recht", schilderte Paulinho weiter und schob nach: "Sie appellierte an mich, dass ich es auch meinen Eltern schuldig sei, die mich immer bei meinem Vorhaben unterstützt haben."
GettyPaulinho mit dem Pokal der Klub-WMAngetrieben von seiner Familie gab Paulinho schließlich klein bei und schloss sich seinem ehemaligen Arbeitgeber Pao de Acucar, an, der damals in der vierten brasilianischen Liga spielte. Sein Weg führte später weiter zum zweitklassigen CA Bragantino, es folgten im Anschluss weitere Leihen, beispielsweise 2010 zu Corinthians, die zwei Jahre später satte fünf Millionen für den Rechtsfuß auf den Tisch legten. Mit dem Spitzenklub aus Sao Paulo feierte er die brasilianische Meisterschaft sowie den Gewinn der Klub-WM. Auch mit der Selecao, für die er im September 2011 sein Debüt gegeben hatte, heimste er Titel ein: Den Confederations Cup im eigenen Land, bei dem er in vier von fünf Spielen über die volle Distanz auf dem Platz stand.
Zurück nach Europa
In ebenjenem Sommer zog es Paulinho erstmals nach seinen Intermezzi in Litauen und Polen nach Europa, weil Tottenham Hotspur bereit war, rund 20 Millionen Euro an Corinthians zu überweisen. Nach anfänglich soliden Leistungen unter Trainer und Fürsprecher Andre Villas Boas, ging es erneut bergab. Weil der portugiesische Coach nicht lange im Amt blieb und seine Nachfolger nicht wirklich auf die Dienste Paulinhos setzten.
Beim 1:7 gegen Deutschland vor heimischer Kulisse bei der Weltmeisterschaft 2014 wurde der Spurs-Profi in der Halbzeit eingewechselt, beim Stand von 0:5, ein Desaster biblischen Ausmaßes für die fußballverrückte Nation. "Irgendwie wollte ich wieder zur Normalität zurückkehren", beschrieb er den Nachgang der Demütigung im Guardian. "Ich kam als Letzter aus dem Urlaub und mit so einer WM im Kopf. Ich habe selten darüber gesprochen. Was soll man auch sagen? Es ist halt passiert - und zur Krönung musste ich zurück zu meinem Klub."
GettyBei Tottenham häufig nur auf der Bank: PaulinhoZurück auf die Insel, zurück nach London, wo gerade Mauricio Pochettino, frisch vom FC Southampton an die White Hart Lane gewechselt, das Zepter übernommen hatte - und nicht mit Paulinho plante. Den hielt es somit nicht mehr länger bei den Lillywhites, er informierte Tottenham-Boss Daniel Levy über seine Wechselabsichten. "Ich wollte ganz weg", so Paulinho. Und so landete er in China. "Als ich dorthin wechselte, bescheinigte mir jeder, dass meine Karriere vorbei sei."
Der Rest ist Geschichte. Eine, die - um es phrasengedroschen auszudrücken -, nur der Fußball schreibt.