Portugal hat am Sonntag Geschichte geschrieben. Eine Selecao hatte seit 1975 Frankreich nicht besiegt und noch nie eine internationale Trophäe in die Höhe recken können. Eine Vielzahl an Portugiesen erwartete erneut dasselbe Drama, stattdessen wurden sie Zeuge eines Traums.
Nach der Niederlage gegen Griechenland im EM-Finale 2004 schien es so, als hätte Portugal seine größte Chance auf einen Erfolg bei einem großen Turnier verspielt. Trotz der Leitung Luiz Felipe Scolaris - des Weltmeister-Trainers von 2002 - war man nicht in der Lage, den Titel im heimischen Lissabon zu gewinnen - eine Tragödie, die auf vielfältiger Weise typische portugiesisch war.
Einst waren sie eine der mächtigsten Nationen der Welt, aufgrund ihrer Entdecker und Erforschungen auf dem Meer. Portugal errichtete ein Weltreich, das in eine Dekadenz zusammenfiel und heute finanziell am Boden ist. Die Kultur ist geprägt von Elementen des Todes, der Klage, Nostalgie und Niederlagen.
Tränen der Trauer
Die traditionelle Musik Portugals wird "Fado" (Schicksal) genannt und fasst die Haltung zusammen. Es geht um verlorene Liebe, Verluste und Erinnerungen an die Ära eines größeren Portugals - Tristesse und bessere Zeiten bestimmen die Gedanken. Die Lieder sind getränkt in Reue und Bedauern. Und in vielen Bars und Tavernen des Landes schauen die Portugiesen TV-Sendungen an und vergießen eine Träne.
Im Vorfeld des EM-Finals 2016 passierte etwas Ähnliches mit der Fußballmannschaft der Nation. Trotz der Talente der goldenen Generation um Luis Figo, Rui Costa, Deco, Ricardo Carvalho und eines jungen Cristiano Ronaldos, endete das Turnier 2004 im eigenen Land mit Tränen.
Doch vierzehn Jahre später hat sich das geändert. Am Tag des Finals gegen Frankreich titelte die portugiesische Zeitung A Bola mit dem Schlachtruf: "Wir werden gewinnen." Auf der Rückseite war indes ein Cartoon zu sehen, wo ein Mann seinem Friseur erzählt, wie schwach das Team während der EM spielte. Der Barbier erwiderte: "Sei leise, das Portugal des Fados schläft noch. Wir wollen es nicht aufwecken."
Getty"Provinzkind" Ronaldo zog in die weite Welt hinaus
Am Montag erwachen die Portugiesen jedoch zu erfreulichen Nachrichten. Dieses Mal gab es kein tragisches Ende, kein fatales Finale. Der Pessimismus wurde ersetzt durch Optimismus und Portugal regiert wieder - obwohl man den Verlust des besten Mannes verkraften musste. Dieses Mal sind sie die Champions Europas.
Es ist eine beachtliche Wendung des Glücks mit Ronaldo an der Front, obwohl der Stürmer Real Madrids vom Platz des Stade de France getragen werden musste - nach einem fürchterlichen Zusammenstoß, der ihm Tränen in den Augen bescherte. Ronaldo versuchte es zweimal, konnte jedoch nicht weitermachen - sein Beitrag für das Team war trotzdem enorm.
In bescheidenen Verhältnissen auf der Insel Madeiras aufgewachsen, siedelte Cristiano im Alter von elf Jahren auf das Festland über, um sich mit Scouts von Sporting in Lissabon zu treffen. 20 Jahre später verhalfen ihm sein Wille, sein Ehrgeiz und seine Hingabe zu drei Ballon d'Ors, drei Champions-League-Titel und einige Trophäen mehr. Wie kein Zweiter hat er seinen Kollegen gezeigt, was möglich ist - und seine Mitspieler haben es sogar ohne ihn befolgt.
Gettyimages"Ronaldo hat mir gesagt, dass ich das Siegtor mache"
Ronaldo war präsent, an der Seitenlinie, rief immer wieder seine Instruktionen rein, verlangte lautere Anfeuerung von den Rängen und kickte jeden Ball in seiner unorthodoxen Rolle als Co-Trainer Fernando Santos' zurück aufs Spielfeld. Rechtsverteidiger Cedric Soares verriet danach, es hatte sogar eine mitreißende Ansprache in der Pause gegeben.
"In der Halbzeit richtete Cristiano fantastische Worte an uns", erzählte Soares. "Er verlieh uns eine Menge Selbstvertrauen und sagte, 'hört zu, ich bin mir sicher, dass wir gewinnen, also haltet zusammen und kämpft dafür!'" Und weiter: "Es war unglaublich. Ich denke, das ganze Team hatte eine fantastische Einstellung. Und wir haben heute gezeigt, dass man zusammen als Team viel stärker ist."
Soares kam aus dem Schwärmen über CR7 gar nicht mehr raus: "Er war fantastisch. Seine Einstellung ist unglaublich. Er hat uns schon immer motiviert und die Mannschaft hört auf ihn. Für jeden Spieler hatte er die passenden Worte in jedem Moment des Spiels."
Einer dieser Spieler war der Torschütze Eder, dessen Kunstschuss das Match in der Nachspielzeit entschied. Eder überraschte viele, nachdem ihn einige schon als einen der schwächsten Angreifer des Turniers abschrieben. Danach erzählte der Stürmer stolz: "Ronaldo hatte mir gesagt, dass ich das Siegtor machen würde. Er hat mir die Kraft verliehen, diese Energie, die entscheidend war."
Für Ronaldo ist nur ein Sieg gut genug. In seinem Museum in Madeira präsentiert der 31-Jährige mit Stolz seine Ballon d'Ors - von den silbernen Bällen, die er als Zweitplatzierter gewonnen hatte, ist keine Spur. Sie zählen für ihn nicht.
Santos baute auf alle 23 Spieler
Doch dieser Pokal bedeutet alles für ihn: "Ich bin so glücklich. So, so glücklich", sagte er nach dem Spiel. "Das ist etwas, auf das ich seit 2004 sehr lange gewartet habe. Ich habe Gott gebeten, mir noch eine Chance zu geben. Es ist einer der glücklichsten Momente meiner Karriere. Alle Einwohner Portugals und jeder Spieler verdient es."
Viele haben die pragmatische Spielweise Portugals bei der EM kritisiert, nachdem Santos' Truppe ohne einen Sieg die Vorrunde überstand und das Turnier mit nur einem Erfolg nach 90 Minuten beendete. Gegen Kroatien und Frankreich kam es zur Verlängerung, gegen Polen zum Elfmeterschießen.
Aber Santos kreierte einen Spirit im Team, den nur wenige andere Mannschaften im Turnier hatten. Zudem setzte er jeden einzelnen Feldspieler ein, um den größtmöglichen Erfolg zu erreichen. Alle 23 Mann leisteten ihren Beitrag.
Seine Einwechslungen waren zudem ein richtungsweisender Faktor. Ricardo Quaresma kam gegen Kroatien rein und erzielte den Siegtreffer, im Finale war es dann Eder, der das entscheidende Tor markieren konnte.
Die schmerzlichen Erinnerungen sind vergessen
Santos und Ronaldo arbeiteten schon 2004 für eine kurze Zeit bei Sporting zusammen. Zwölf Jahre später verhalfen sie ihrer Nation die schmerzlichen Erinnerungen an die Niederlage gegen Griechenland vergessen zu machen. Jetzt sind sie die Champions Europas.
Und dieses Mal gibt es keinen Tod, keine Klage, Nostalgie oder Niederlage. Wie Ronaldo, können die Portugiesen diesmal Tränen der Freude vergießen.