EXKLUSIV-INTERVIEW
Er studierte Jura, führte ein Tischtennisfachgeschäft und arbeitete als Presse- und Stadionsprecher sowie als Vertriebs- und Marketingdirektor: Heute ist Carsten Cramer neben Hans-Joachim Watzke und Thomas Treß als einer von drei Geschäftsführern bei Borussia Dortmund tätig.
Im Interview mit Goal und SPOX spricht der 51-Jährige über unglückliche Marketingmaßnahmen, die Herausforderungen der Corona-Krise, die Umverteilungsdebatte und seine Zukunft.
Außerdem: Warum der BVB nicht mit Nike, adidas oder Audi zusammenarbeitet, wie das Ticketing der Zukunft ablaufen wird und warum die BVB-Trikots aussehen, wie sie aussehen.
Herr Cramer, gab es in Ihrer Jugend einen Moment, in dem Sie für sich beschlossen haben, beruflich etwas im fußballerischen Bereich machen zu wollen?
Carsten Cramer: Man muss das eher im Ausschlussverfahren betrachten. Ich habe irgendwann gemerkt, dass es für den Leistungs- und Spitzensport nicht reichen wird. Gleichzeitig habe ich immer das Interesse verspürt, im sportlichen Umfeld etwas zu organisieren. Ich habe während meines Zivildienstes in einem sozialen Brennpunkt in Münster einen Fußballverein gegründet, weil ich gemerkt habe, dass man über den Fußball in der Lage ist, integrativ zu wirken. Insofern habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass es zwar auf dem grünen Rasen keinen Platz für mich gibt, sehr wohl aber im Umfeld. Das war der Antrieb, in diesem Bereich sesshaft zu werden.
Nächstes Spiel
An welche Marketingaktion rund um den Fußball denken Sie, wenn Sie in Ihre Kindheit und Jugend zurückblicken?
Cramer: Als ich noch Münsteraner war, habe ich mal festgestellt, dass ich relativ wenig mit Arminia Bielefeld anfangen konnte. Noch weniger konnte ich mit Arminia Bielefeld anfangen, als ein damaliger Manager auf die Idee kam, aus der Alm die Milka-Alm zu machen und überlegte, die Alm lila einzufärben. Da habe ich gedacht: Clever und kreativ ist das eine, die Grenzen zu beachten und nicht zu überschreiten das andere. Das war eine Idee, die mir als negatives und abschreckendes Beispiel immer in Erinnerung bleiben wird.
Sie waren von 2002 bis 2007 beim Sportrechtevermarkter Ufa (später SPORTFIVE) als Teamleiter für die Vermarktung des BVB zuständig, ehe Sie im Oktober 2010 als Direktor für den Vertriebs- und Marketingbereich zu Borussia Dortmund wechselten. Es folgte in der Ära Jürgen Klopps eine der erfolgreichsten Zeiten der Vereinsgeschichte. Fernab der Titelgewinne: An welche Situation denken Sie besonders gerne zurück, wenn Sie an diese Zeit denken?
Cramer: Als wir 2012 nach dem Doublesieg mit unserem Truck durch Dortmund gefahren sind, durfte ich oben auf dem Bus dabei sein. In die Augen der Menschen zu blicken und zu sehen, was der Klub und die Spieler den Fans bedeuten, war für mich ein emotionales Highlight, das mir einerseits die Dimension von Borussia Dortmund vor Augen geführt und andererseits als warnendes Signal gedient hat, mit diesem Gut der emotionalen Bindung verantwortungsvoll umzugehen. Ich habe mich tierisch gefreut und war zugleich erschrocken, welche Verpflichtung und Verantwortung das mit sich bringt. Ich will nicht überdrehen, aber ich bilde mir ein, die Menschen, die ich damals gesehen und noch immer vor meinem geistigen Auge habe, noch heute identifizieren zu können.
Seit März 2018 stehen Sie beim BVB als Geschäftsführer noch mehr in der Gesamtverantwortung. Aktuell müssen Sie den Klub durch die wohl größte Wirtschaftskrise seit 1930 manövrieren. Wie erinnern Sie sich an den Ausbruch der Corona-Pandemie?
Cramer: Wir leben im Fußball zugegebenermaßen in vielerlei Hinsicht in einer Art Traumwelt, die dann jedoch ganz schnell zu einer Alptraumwelt wurde. Innerhalb von sieben Tagen hat uns die Pandemie über die Spiele in Gladbach und Paris sowie mit dem ausgefallenen Derby mit einer unvorstellbaren Wucht ereilt. Im Vorfeld des Gladbach-Spiels hat man vielleicht geahnt, dass es mühsam werden könnte. Ich weiß noch, dass wir beim Abflug nach Paris am darauffolgenden Montag noch nicht die hundertprozentige Erkenntnis hatten, dass ohne Zuschauer gespielt wird. Am Freitagmorgen wurde dann das Derby ohne Zuschauer angekündigt, ehe der Spieltag am Freitagnachmittag um 16 Uhr komplett abgesagt wurde. Und auf einmal hat man das Gefühl, seine berufliche Tätigkeit sei komplett hinfällig.
Dabei wurde es in den darauffolgenden Wochen und Monaten insbesondere für Sie umso intensiver. Wie sind Sie in den ersten Tagen mit der Situation umgegangen?
Cramer: Viele unserer handelnden Personen haben in ihren aktuellen oder anderen Rollen die Beinahe-Insolvenz in der Saison 2004/05 sowie den Bombenanschlag im April 2017 miterlebt. Speziell nach dem Anschlag rund um das Champions-League-Spiel gegen Monaco standen wir innerhalb kürzester Zeit in einer unfassbaren Drucksituation. Dementsprechend waren wir in der Lage, sehr schnell auf Krisenmodus umzuschalten. Und trotzdem hat uns die Corona-Pandemie enorm getroffen. Problematisch war anfangs insbesondere, dass kaum jemand das Ausmaß der Pandemie richtig einschätzen konnte.
Wie hat sich das beim BVB bemerkbar gemacht?
Cramer: Glücklicherweise hatten und haben wir den Vorteil, dass wir mit der Welt, in der das Ganze entstanden ist, sehr eng verbunden sind. Wir standen vom ersten Tag an mit unseren Büros in Shanghai und Singapur in engem Kontakt. Dementsprechend haben wir von den Erkenntnissen aus Asien profitiert und wussten beispielsweise sehr früh und genau, mit welchen Restriktionen die Politik dort glaubt, dem Problem Herr zu werden. Dass es auf den Sport aber so massiven Einfluss hat, dass auf einmal Spiele nicht stattfinden und Wettbewerbe abgebrochen wurden wie in der französischen Ligue 1, das hätte ich nicht für möglich gehalten.
imago images / Kirchner Media Bild: imago images / Kirchner MediaWie greifbar war die Situation für Sie persönlich?
Cramer: Ich hatte erfreulicherweise nur einen Fall im privaten Umfeld, der jedoch sehr ernst war. Ein sehr guter Freund lag sechs Wochen auf der Intensivstation, ehe er mit ganz viel Mühe und Not aus dem künstlichen Koma zurückgeholt worden ist. Das war im April und hat mich schon nachdenklich gemacht. Es ist nach wie vor jeden Tag ein neuer Kampf – für jeden Einzelnen und uns alle gleichermaßen. Mit den Geisterspielen und dem DFL-Konzept, das wir in der Sommerpause erarbeitet haben, hatten wir einen großen Schritt gemacht. Und dennoch kommt einem die ganze Situation immer noch surreal vor – wie ein schlechter Traum, der nur leider nicht enden will.
Wie in jedem Unternehmen mussten auch beim BVB insbesondere in der Anfangszeit schwierige Entscheidungen getroffen werden. Welche war die schwierigste?
Cramer: Ganz wichtig war zunächst das Bewusstsein, wohin die Probleme führen können. Man arbeitet im Management immer in Worst, Medium und Best Cases. Wir haben uns sehr schnell mit dem Worst Case auseinandergesetzt, und ich hatte dabei das Gefühl, dass alle Mitarbeiter vom Spieler bis zur Aushilfskraft gemerkt haben, was diese Situation bedeutet. Die Spieler haben verzichtet, die Mitarbeiter haben sich eingeschränkt. Wir haben - das war ganz wichtig - keine Kurzarbeit eingeführt und an gewissen Stellen fast antizyklisch gehandelt. Wir haben uns beispielsweise auch nicht von Spielern getrennt oder Personal freigestellt.
Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen?
Cramer: Wir haben auf die Kostenbremse getreten, Neueinstellungen gestoppt und die Mannschaft sehr schnell zu Zugeständnissen und Einschränkungen bewegen können.
Was heißt es konkret, auf die Kostenbremse zu treten?
Cramer: Ich will nicht behaupten, dass wir auf einmal keine Cola mehr ausgeschenkt haben. Man kann aber sagen, dass wir alle Ausgaben auf den Prüfstand gestellt und beispielsweise mit Partnern gesprochen und bestimmte Agenturen nicht mehr beauftragt haben. Ein Beispiel: Wir haben unsere Vermieter gefragt, ob wir nicht 20 Prozent Mietnachlass bekommen könnten, da wir unsere Geschäfte nicht öffnen konnten. Solche Maßnahmen haben wir flächendeckend in allen Bereichen umgesetzt, und das hat funktioniert.
Ist es denn tatsächlich möglich, dabei für beide Seiten faire Lösungen zu finden?
Cramer: Mir hat Puma-Geschäftsführer Matthias Bäumer mal gesagt, dass es wichtig sei, dass wir unsere Probleme nicht ausschließlich auf Kosten anderer lösen dürfen. Es muss also immer ausbalanciert sein – und das haben wir gut hinbekommen. Wir haben ganz viele Gespräche geführt und fast keine Entscheidung getroffen, ohne zuvor mit den davon betroffenen Gruppen in Dialog zu treten. Es wäre unsozial gewesen, plötzlich gewisse Verträge anzufechten. Wir arbeiten beispielsweise mit einer kleinen Eventagentur zusammen, die ganz viele Dinge für uns organisiert. Wenn wir dort von heute auf morgen keinerlei Aufträge mehr hinterlegt hätten, wäre die Agentur ganz schnell pleitegegangen – und damit wäre uns auch nicht geholfen gewesen.
Borussia Dortmund hat im Sommer Jude Bellingham verpflichtet, zudem griff die Kaufpflicht für den zuvor von Juventus Turin ausgeliehenen Emre Can. Gleichzeitig wurde durch Spielerverkäufe nicht viel Geld eingenommen. Welches Worst-Case-Szenario droht mit Blick auf den kommenden Sommer?
Cramer: Zunächst haben wir den Can-Transfer ohne jeglichen Corona-Impact getätigt. Dass wir die aktuelle Situation dennoch nicht unendlich lange durchhalten können, ist auch klar. Dem Fußball fehlt nicht nur die monetäre Note, sondern auch die emotionale. Wir können uns über eine gewisse Emotionslosigkeit unserer Mannschaft im Olympiastadion zu Rom beklagen. Es ist aber auch Fakt, dass in Rom insgesamt kein klassisches Champions-League-Feeling aufkam – und das liegt an Corona. Bei all den vordergründigen wirtschaftlichen Nöten dürfen wir nicht vergessen, dass es auch eine Herausforderung sein wird, das wiederherzustellen. Dennoch bin ich dankbar für jeden Spieltag, der stattfinden kann.
Nochmal konkret: Wie sieht beim BVB das Worst-Case-Szenario für die nahe Zukunft aus?
Cramer: Nur so viel: Wir sind wie jeder andere Profiklub nicht in der Lage, dieses Szenario über einen langfristigen Zeitraum zu überleben.
In der Champions League standen zuletzt in Rennes oder Salzburg viele Fans dicht an dicht in der Fankurve, während große Teile der übrigen Tribünen leer blieben. Wie blicken Sie auf das Thema der Zuschauerrückkehr?
Cramer: Ich möchte nur über die Stadien in Deutschland sprechen, und hier machten und machen wir es gut. Ich würde mir ohnehin wünschen, dass dieses Thema differenzierter diskutiert wird. Als am 22. Oktober die 11.000 Neuinfektionen in Deutschland kommuniziert wurden, stand im Relativsatz, dass mittlerweile mehr getestet wird. Das ging in die richtige Richtung: Ja, die Positiv-Quote ist gestiegen – aber eben auch die absolute Zahl der Tests. Man sollte häufiger das Verursacher-Prinzip anwenden. Wenn also erkennbar ist, dass von einer Veranstaltung kein überdurchschnittliches Risiko ausgeht, weiß ich nicht, ob man ihr sofort komplett den Stecker ziehen muss. Bitte nicht falsch verstehen: Wir haben vom ersten Tag an alle Beschlüsse der Politik mitgetragen, und so tragen wir sie auch jetzt für den Monat November mit. Trotzdem darf man auch mal enttäuscht sein und das auch artikulieren. Es ist ja nicht der Fall, dass man von heute auf morgen wieder vor 50.000 Zuschauern spielen will. Es geht um die Verhältnismäßigkeit.
Inwiefern ist der sportliche Druck beim BVB insbesondere in Bezug auf die Champions League und die damit verbundenen Einnahmen in der aktuellen Situation größer als üblich?
Cramer: Wir spüren eine permanente Drucksituation. Gleichzeitig rücken wir tagtäglich enger zusammen. Das hilft – genauso wie die Rückendeckung von außen. Unsere Fans und Partner sind extrem loyal, und trotzdem ist der Druck immens. Wir versuchen von morgens bis abends, Lösungen herbeizuführen und vor allem Fehler zu vermeiden.
imago images / DeFodi Bild: imago images / DeFodiOb im Stadion oder über Interviews: Während der Corona-Pandemie erreicht Borussia Dortmund über den direkten Weg weniger Menschen als zuvor. Gleichzeitig gibt es viele Möglichkeiten im digitalen Bereich, etwa über die Social-Media-Kanäle. Inwiefern ist das eine Chance?
Cramer: Wir haben im digitalen Bereich unfassbar zugelegt, das hilft uns enorm. Wenn ich sehe, welche und wie viele Inhalte wir zur Verfügung stellen, ist das schon beachtlich. Auch wenn uns allen die Ursache nicht gefällt: In diesem Tempo hätten wir uns im digitalen Bereich ohne Corona definitiv nicht weiterentwickelt.
Inwieweit können Sie durch diesen Zuwachs finanzielle Verluste ausgleichen?
Cramer: Teilweise. Wir haben eine höhere Reichweite und Interaktion. Im E-Commerce-Bereich verzeichnen wir deutliche Zuwächse – das gilt für unsere eigenen Kanäle genauso wie beispielsweise für unseren Amazon-Shop. Unsere Partner nutzen die digitalen Welten wiederum, um Botschaften zu senden, die sie sonst im Stadion gesendet hätten. Das alles hat einen großen Wert. Zudem haben wir uns im Ticketing auf digitaler Ebene weiterentwickelt. Normalerweise haben wir vor jeder Saison 2,5 Millionen Ticketrohlinge bestellt – das haben wir bisher nicht gemacht. Ich will nicht ausschließen, dass das Ticketing der Zukunft durch Corona einen großen Schritt nach vorne gemacht hat.
Wie genau wird das Ticketing der Zukunft beim BVB aussehen?
Cramer: Ich will jetzt noch nicht ankündigen, dass wir unsere Hotline abschaffen, bin mir aber sicher, dass der Ticketing-Vertrieb flexibler, dynamischer und unkomplizierter werden wird. Ich möchte dem Fußballromantiker nicht sein Ticketrohling-Sammelhobby abspenstig machen, kann mir aber sehr gut vorstellen, dass die Plastikdauerkarte oder die Tageskarte in Papierform künftig die Ausnahme bleiben wird.
FCB-Präsident Herbert Hainer sagte zuletzt: "Uns fehlen pro Heimspiel mehr oder weniger vier Millionen Euro bei Ticketing und Catering. Wir machen deutlich weniger Merchandising-Umsätze, weil die Leute keine Trikots kaufen, wenn sie nicht ins Stadion gehen dürfen." Ist die Lage beim BVB ähnlich?
Cramer: Wir können durch den digitalen Bereich vieles kompensieren, aber ganz sicher nicht alles. Ganz entscheidend ist dabei auch für uns die Austragung unserer Heimspiele. Wenn die Fanwelt an einem Spieltag plötzlich nur von 222 Menschen betreten werden kann, normalerweise aber pro Spieltag rund 200.000 Euro Umsatz macht, kann man das online nicht kompensieren.
Wenn wir fernab von Corona über die Internationalisierung sprechen: Welcher Markt ist heutzutage der wichtigste für Borussia Dortmund?
Cramer: Immer der Heimatmarkt, das wird sich auch nie ändern.
Und fernab des Heimatmarkts?
Cramer: Zunächst einmal möchte ich betonen, dass am Satz von Uli Hoeneß etwas dran ist. Er hat einst gesagt, für drei Chinesen müsse er einen Fan in Bayern opfern. Wir sind nur dann im Ausland interessant, wenn wir im Heimatmarkt funktionieren. Ich war gerade erst mit der Familie von Jude Bellingham unterwegs und habe dabei nochmal ganz bewusst wahrgenommen, wovon man im Ausland schwärmt, wenn man über Dortmund redet, nämlich in allererster Linie von unserem Stadion, unseren Fans und dem Fußball, den wir spielen. Wenn Christian Pulisic im Interview erzählt, dass er immer noch nicht glauben kann, wie viele Menschen den Aufkleber mit dem BVB-Logo auf ihrem Auto haben, sind das die Geschichten, die die Faszination Borussia Dortmund ausmachen. Wenn das Lagerfeuer nicht mehr von innen glüht, gibt es auf Dauer keine Funken. Deshalb ist der Heimatmarkt für mich immer der allerwichtigste. Erst dadurch wird ein Abstrahleffekt ins Ausland überhaupt möglich. Wenn wir dann über das Ausland sprechen, kommt Europa an erster Stelle. In den anliegenden europäischen Staaten sind wir eine immer größer werdende Nummer. Fernab von Europa zählen die USA und Asien zu den weiteren Zielmärkten.
Welcher Markt könnte mittelfristig als neuer hinzukommen?
Cramer: Corona hat dazu beigetragen, dass die Internationalisierung etwas entschleunigt wurde. Wir haben unsere Büros in Südostasien und China, sind mit SPORTFIVE auch in den USA vertreten. Zudem haben wir mit dem FC Hyderabat in Indien eine Vereinskooperation abgeschlossen. Wir bleiben dabei, dass uns die Internationalisierung Chancen und Potenziale bietet. Sie hat sich aber durch die aktuelle Weltwirtschaftskrise etwas relativiert.
Sie haben Christian Pulisic 2017 im Interview als "kommenden Superstar" und "gigantisches Zugpferd" bezeichnet. Welche Auswirkungen hatte sein Verkauf konkret auf die internationale Vermarktung, speziell in den USA?
Cramer: Der Vorteil ist, dass es immer einen Depoteffekt gibt. Bei uns steht der Vereinsname nicht umsonst oben auf dem Trikot. Spieler sind aus Marketing-Sicht enorme Verstärker, aber Borussia Dortmund ist so groß und stark, dass der Klub und die Absatzzahlen nicht einbrechen, weil und wenn uns ein Spieler verlässt. Alles, was wir machen, hat eine nachhaltige Wirkung. Es ist zweifelsohne schade, dass Christian uns verlassen hat. Aber da er im absoluten Einvernehmen gegangen ist und weiterhin positiv über den BVB spricht, entsteht kein Schaden – ganz im Gegenteil. Wir haben zu allen Spielern, die uns verlassen haben, weiterhin einen guten Draht. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass immer wieder Spieler wie Mario Götze, Nuri Sahin, Shinji Kagawa oder Mats Hummels gerne zu uns zurückkehren.
Pulisic trägt beim FC Chelsea seit dieser Saison die Rückennummer 10, die auch aus Marketingsicht hochinteressant sein dürfte. Gleichzeitig kamen mit Kai Havertz und Hakim Ziyech Spieler, die die Nummer sicherlich auch hätten tragen können. Kann so eine Entscheidung auch auf eine Marketingstrategie mit Blick auf die USA zurückzuführen sein?
Cramer: Marketing ist immer eine Begleiterscheinung. Wir flankieren, verstärken, überspitzen, stehen aber niemals im Zentrum. Lassen Sie mich kurz überlegen: Nein, beim BVB haben wir noch nie eine Rückennummer aus Vermarktungsgründen vergeben. Genau da muss man meines Erachtens aufpassen, dass man nicht überdreht. Jetzt muss ich aber wiederum aufpassen, dass ich nicht zu viel verspreche und mich in zwei Jahren von irgendjemandem überführen lassen muss.
In Giovanni Reyna haben Sie aus sportlicher und marketingtechnischer Sicht den perfekten Spieler in Ihren Reihen, um in Pulisics Fußstapfen zu treten. Wie groß ist sein Potenzial?
Cramer: Sein Potenzial ist riesig. Er ist genau wie Christian nicht nur ein überragender Fußballer, sondern auch ein richtig guter Typ. Für uns ist er in sportlicher Hinsicht und in puncto Vermarktung ein Sechser im Lotto. Letztere Komponente war aber nicht entscheidend dafür, dass wir den Jungen geholt haben. Wir verpflichten nicht nach Nationalitäten oder Marketingwert, sondern nach sportlichen Kriterien. Es ist aber ein schöner Zufall, den es für jemanden aus dem Marketing sinnvoll zu nutzen gilt.
Welcher ehemalige oder aktuelle BVB-Spieler war oder ist für Sie am besten zu vermarkten?
Cramer: Das möchte ich ungern beantworten, weil ich den anderen damit keinen Gefallen tue.
Anders gefragt: Wessen BVB-Trikot wurde während Ihrer Zeit beim BVB innerhalb von einer Saison am häufigsten verkauft?
Cramer: Das von Marco Reus.
Getty Images Bild: Getty ImagesUm bei den Trikots zu bleiben: Das Design der neuen Shirts wurde im Vorfeld dieser Saison vor allem unter den Fans kontrovers diskutiert. Wie geht der Prozess genau vonstatten, der über die Optik eines neuen Trikots entscheidet?
Cramer: Der Ausrüster kommt mit Ideen auf uns zu, hat es mit uns aber nicht ganz so leicht. Wenn es von unserer Seite immer heißt, das Heimtrikot müsse gelb-schwarz und das Auswärtstrikot schwarz-gelb sein, ist der Gestaltungsspielraum nach inzwischen acht Jahren mit Puma eingeschränkt. Bei uns ist es in der Regel so, dass es alle zwei Jahre ein bisschen lauter und kreativer und dann wieder etwas ruhiger wird. Das führt dazu, dass jeder Geschmack in der Regel mindestens alle zwei Jahre bedient wird.
Auch Juve oder Barca haben in den vergangenen Jahren bei ihren Heimtrikots traditionelle Muster aufgebrochen und teilweise nicht mehr in klassisch längsgestreiften Shirts gespielt. Es gibt aber auch Vereine wie Real Madrid, Liverpool oder Chelsea, bei denen beim Heimtrikot fast gar nicht experimentiert wird. Warum hat sich der BVB für erstere Variante entschieden und inwiefern kann aus Marketingsicht auch negative Aufmerksamkeit helfen?
Cramer: Das Trikot ist genauso wie das Logo ein wichtiges Symbol für den Verein. Deshalb wollen wir unserer Herkunft treu bleiben und grundsätzlich in Schwarz und Gelb spielen. Man kann das bei der Trainingskleidung sicher auflockern und braucht auch ein Ausweichtrikot für den Fall, dass man im DFB-Pokal auswärts gegen Eintracht Braunschweig oder Alemannia Aachen spielt. Ansonsten haben wir so schöne Vereinsfarben in einer im Fußballgeschäft seltenen Farbkombination – da wären wir doof, wenn wir sie aufgeben.
Wenn man auf die Sponsoren beziehungsweise Partner von Borussia Dortmund in den jeweiligen Bereichen schaut, arbeitet der BVB nicht mit den bekanntesten und umsatzstärksten Konzernen zusammen. Ausrüster ist Puma, nicht adidas oder Nike, Trikotsponsor ist 1&1, nicht die Telekom oder Vodafone, Automobilpartner ist Opel, nicht VW, BMW oder Audi. Warum ist das so?
Cramer: Zunächst einmal sind wir über jeden der genannten Partner froh und freuen uns, dass sie sich mit Borussia Dortmund identifizieren. Wenn Sie eine archetypische Marktpositionierung zu Grunde legen, sind wir der Herausforderer. Die Marken, die Sie gerade genannt haben, sind alle keine Platzhalter, sondern Brands, die das Establishment herausfordern. Und: Wir sind eben auch Dortmund, kommen aus einer strukturschwachen Region, haben keine Konzerne in unserer Stadt, wie es in München, Frankfurt, Hamburg oder Berlin der Fall ist.
Muss es nicht dennoch das Ziel sein, nicht nur im sportlichen Bereich, sondern auch auf Ebene der Partner und Sponsoren ganz oben mitzumischen?
Cramer: Das wird der Sache nicht gerecht. Wir spielen doch eine viel größere Rolle bei Puma oder Opel, als es bei adidas, Nike, VW oder Audi der Fall wäre. Da wären wir einer von vielen Partnern und würden kommunikativ unter ferner liefen stattfinden. Jetzt sind wir bei Opel gemeinsam mit Jürgen Klopp eines der werblichen Aushängeschilder, bei Puma sind wir das mit Manchester City und der italienischen Nationalmannschaft. Damit ist sichergestellt, dass überall, wo es Puma-Klamotten gibt, auch ein BVB-Trikot hängt. Wären wir bei adidas, hängen da erstmal Trikots von Real Madrid, Manchester United, Bayern München und anderen Top-Klubs. Da wären wir im Zweifel das fünfte Rad am Wagen. Wir wollen uns weiterentwickeln und unsere Partnerschaften werthaltiger gestalten. Es geht aber nicht darum, unter einem Brandindex die nächsthöhere Stufe zu erzielen. Wir wissen, wo wir herkommen.
Anderes Thema: Wie bewerten Sie die anhaltende Diskussion um eine mögliche Umverteilung der TV-Gelder?
Cramer: Wie ich zuvor in anderem Zusammenhang bereits betont habe, bin ein großer Verfechter des Leistungs- und Verursacherprinzips. Dementsprechend finde ich die Umverteilungsdiskussion nicht zielführend. Man muss das, was die Vereine individuell leisten, wertschätzen. Jeder Verein hat Möglichkeiten, sich selbst zu entwickeln. Ob der Meisterschaftskampf, der am Ende über die Attraktivität der Liga entscheidet, spannender wird, weil Borussia Dortmund fünf Millionen Euro weniger und Mainz 05 fünf Millionen Euro mehr bekommt, wage ich zu bezweifeln.
Wobei man die Gelder auch komplett antizyklisch verteilen könnte, damit die Schere zwischen Arm und Reich zumindest mittel- bis langfristig nicht immer weiter aufgeht.
Cramer: Dann sollten wir die amerikanischen Verhältnisse komplett adaptieren, den Transfermarkt entsprechend regulieren und eine geschlossene Gesellschaft ohne Auf- und Abstieg schaffen. Und dann können wir auch jede Saison Kniffel spielen und schauen, wie es ausgeht. Sie merken: Ich halte nichts davon, unsere Prinzipien komplett über den Haufen zu werfen – genau das wäre nämlich der Fall. Wir sind froh darüber, dass wir an vielen Stellen nicht vergleichbar mit dem amerikanischen Sportsystem sind. Sich dann nur eine Seite herauszupicken, ohne die andere zu betrachten, finde ich zu kurz gedacht.
Beim und rund um den BVB gab es speziell in den vergangenen Jahren angeregte Diskussionen über die Positionierung in der Titeldiskussion. Wie sieht Ihre Sicht der Dinge aus?
Cramer: Wir machen alles maximal ambitioniert. Es hilft aber keinem, öffentlich zu verkünden, dass wir Ziel X erreichen wollen. Das führt nur dazu, dass die Journalisten möglicherweise nach ein paar Spieltagen fragen, ob der Verein nicht sein Ziel revidieren müsse.
Abschließend zu Ihnen persönlich: Sebastian Kehl wird derzeit als Nachfolger von Michael Zorc aufgebaut, Sie wiederum sind seit März 2018 Geschäftsführer, während der Vertrag von Hans-Joachim Watzke …
Cramer: Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen. Die Frage brauchen Sie gar nicht auszuformulieren, denn sie stellt sich nicht. Wir sind ein großartiges Team, arbeiten schon lange zusammen und schätzen uns ungemein. Ich hoffe, dass wir in der Konstellation noch lange zusammenarbeiten.
Anders gefragt: Könnten Sie sich vorstellen, langfristig noch mehr in der Gesamtverantwortung zu stehen, als es derzeit der Fall ist?
Cramer: Ich habe momentan einen tollen Job und im Hier und Jetzt so viel zu tun, dass ich mir über Überübermorgen keine Gedanken mache. Ich hoffe einfach, dass mein Umfeld und die Menschen, die Borussia Dortmund ausmachen, mit meiner Arbeit zufrieden sind. Dabei belasse ich es.