HINTERGRUND
Es ist Anfang Juni. Die Sonne strahlt über dem Stade de la Route in der beschaulichen Hafenstadt Lorient an der Atlantikküste. Im Inneren, auf dem erhitzten Grün, duellieren sich die Frauen-Nationalmannschaften aus Deutschland und China. Das DFB-Team, immerhin zweimaliger Weltmeister, hat merklich zu kämpfen.
Mit den Temperaturen, mit den leidenschaftlich kämpfenden Spielerinnen aus dem Reich der Mitte. 65 Minuten sind bereits ins Land gegangen, Tore wurden auf der Anzeigetafel noch nicht erfasst. Dzsenifer Marozsan legt sich den Ball an Eckfahne zurecht, schlägt ihn hinein in den Strafraum, an dessen Begrenzung Giulia Gwinn wartet. Tatsächlich landet das Kunstleder über Umwege bei ihr. Auf die perfekte Annahme folgt ein satter Rechtsschuss, wenige Augenblicke später: grenzenloser Jubel. Die Erlösung für Deutschland. Dank einer 19-Jährigen vom Bodensee.
"Pure Freude" habe Gwinn empfunden, wie sie im Gespräch mit ihrem Ausrüster Nike vor einigen Wochen erklärt, ehe sie sich im Training an der Schulter verletzte. "Ich kann mich an die Situation noch ganz genau erinnern: Nach einer abgewehrten Ecke landete der Ball plötzlich bei mir. Ich hatte in diesem Moment gar nicht viel Zeit, nachzudenken, habe einfach abgezogen." Sie ahnt zu diesem Zeitpunkt nicht, welch enorme Auswirkung ihr Tor hat. Nicht nur in der Heimat, sondern auch auf der Tribüne, wo ihre Eltern mitfiebern. "Mein Vater weint eigentlich nie, aber er hatte Tränen in den Augen", verrät sie im Anschluss.
Instagram-Kanal "ist explodiert"
Sekundenbruchteile, die ihr einen kurzfristigen Heldinnen-Status einbringen, Sekundenbruchteile, die ihre Followerzahl auf Instagram rasant steigen lassen. Ihr Kanal sei während der WM in Frankreich "regelrecht explodiert", sagt Gwinn. Sie ist angekommen in der schillernden Welt des Profi-Fußballs, plötzlich über die Grenzen Baden-Württembergs hinaus bekannt.
"Es hat sich seit der WM tatsächlich einiges verändert", sagt Gwinn, die nach dem Turnier vom SC Freiburg zum FC Bayern München wechselt. "Ich spiele jetzt im Trikot des FC Bayern und wohne erstmals alleine in einer Wohnung. Klar ist es so, dass ich auf der Straße mittlerweile öfter mal erkannt und nach Fotos oder Autogrammen gefragt werde. Ich finde es gut, wenn die Leute freundlich auf mich zugehen, weil es einfach nur zeigt, dass sie an uns Spielerinnen und unserem Sport interessiert sind. Auch Medien- und Kooperationsanfragen haben deutlich zugenommen."
Was macht solch ein Hype mit einer jungen Frau? Er gibt ihr – in Gwinns Fall - eine wichtige Stimme. "Durch das gewachsene Interesse sehe ich mich noch mehr in der Verantwortung, gerade jungen Menschen ein gutes Vorbild zu sein", sagt sie. "Reichweite verschafft mir Gehör. Aber Reichweite verändert mich nicht als Mensch. Ich habe weiterhin die gleichen Freunde und meine Familie um mich herum. Ich bleibe ich." Bei aller Bodenständigkeit ist sich die Außenbahnspielerin ihrer neugewonnen Strahlkraft bewusst: "Ich nehme natürlich wahr, dass vor allem junge Mädchen, die auch davon träumen, später in der Nationalmannschaft zu spielen, zu mir aufschauen und sich Sachen von mir abschauen. Ich sage den Mädels dann immer: An erster Stelle sollte der Spaß stehen. Fußball muss deine Leidenschaft sein."
Gwinns Mutter war zunächst gegen Vereinsfußball
Gwinn spricht aus Erfahrung, weiß um die Passion, die der Fußball auszulösen vermag. "Mich hat der Fußball schon als kleines Mädchen gepackt. Wir haben einen Platz neben dem Haus meiner Eltern. Ich konnte kaum laufen, da habe ich dort schon jeden Tag mit meinen älteren Brüdern gespielt." Ganz zum anfänglichen Leidwesen ihrer Mutter. "Sie erlaubte es anfangs nicht, auch in einem Verein zu spielen. Für ein kleines Mädchen ist es nicht so leicht zu verstehen, dass man das nicht darf. Da erkennt man nicht, dass sich die Mutter, zu der man ansonsten ein super Verhältnis hat, einfach um einen sorgt."
Mädchen und Fußball – eine zu jener Zeit mit Ressentiments behaftete Mischung. "Meine Mutter war zunächst der Meinung, dass es doch vielleicht bessere Sachen für Mädchen gebe. So hat sie mich erstmal zum Training von anderen Sportarten geschleppt: Kunstradfahren, Taekwondo, Handball. Das hat mir aber alles nicht so viel Spaß gemacht", erinnert sich Gwinn. "Als meine Mutter merkte, wie viel mir der Fußball wirklich bedeutet, hat sie ihr Okay gegeben und mich bei meiner Leidenschaft unterstützt. Mit acht Jahren wurde ich dann Vereinsfußballerin. Heute ist meine Mutter mein größter Fan."
NikeDoch warum ausgerechnet Fußball, warum sprang "der Funken" bei den anderen Sportarten nicht über? "Die Begeisterung meiner Brüder am Fußball hat sich schnell auf mich übertragen. Ich bin einfach eine Teamspielerin. Ich mag es, mit meinen Mitspielerinnen auf dem Platz zu stehen, den täglichen Austausch. Gemeinsam etwas zu erreichen, motiviert mich sehr." Dementsprechend motiviert Gwinn mittlerweile gerade junge Frauen, ebenfalls ihren Weg im Fußball zu gehen.
Giulia Gwinn: "Du tust es nie nur für dich"
Die 17-malige Nationalspielerin dient als Inspiration für Tausende. "Du kannst deine Träume wahr werden lassen – und am Ende sogar andere Menschen inspirieren. So wie ich Euch jetzt. Du tust es also nie nur für dich. Mit deinem Ehrgeiz und mit deiner Leistung kannst du viel mehr bewegen als nur dich."
Eine Maxime, die sie selbst auf ihrem Weg nach ganz oben stets begleitete – und die in der neuen Nike-Kampagne Helden, für die neben Fußballstars wie Mario Götze und Leroy Sane auch Gwinn gewonnen werden konnte, eine zentrale Bedeutung hat. "Dann sind wir Helden, für einen Tag", singt David Bowie darin. So wie Gwinn an besagtem Junitag im vergangenen Jahr. Als sie im sonnigen Lorient ihr Team zum Sieg schoss.