Es läuft die Nachspielzeit: ein schneller Antritt, eine präzise Flanke von rechts in die Mitte, Tor - Ekstase! Spätestens seit David Odonkors Nominierung für den DFB-Kader bei der Heim-WM 2006, der durch seine Vorlage für Oliver Neuville beim 1:0-Sieg gegen Polen seinen Teil zum Sommermärchen beitrug, lauern vor jedem großen Nationen-Turnier alle auf einen überraschenden Namen. So auch vor der Weltmeisterschaft in Katar in wenigen Wochen.
Bei der umstrittenen WM ist allerdings nicht nur der Zeitpunkt ungewöhnlich. Weil der Termin für die finale Kader-Nominierung (26 Spieler) zu dicht am Turnierstart am 20. November liegt, mussten die Trainer schon im Oktober einen XXL-Kader benennen, weil die Spieler unter anderem für Visa und Dopingkontrollen digital bei der FIFA vorregistriert werden müssen. Dieser Pflicht kam auch Bundestrainer Hansi Flick nach - und nominierte gleich 55 potenzielle WM-Fahrer.
Aus der Liste macht der DFB aktuell noch ein großes Geheimnis, Spekulationen gibt es freilich dennoch. Besonders die Stürmer-Frage beschäftigt Fußball-Deutschland. Zahlreiche Experten wie Lothar Matthäus oder Bastian Schweinsteiger machen sich beispielsweise für Werder Bremens Niclas Füllkrug stark. Auch Hany Mukhtar wird oft genannt. Allerdings schwebt auch noch über einer anderen Position ein dickes Fragezeichen: dem zentralen Mittelfeld.
Das mag auf den ersten Blick zwar nicht schlüssig sein, schließlich hat Deutschland mit Joshua Kimmich, Leon Goretzka und Ilkay Gündogan gleich drei Weltklasse-Mittelfeldspieler in seinen Reihen. Die im von Flick bevorzugten 4-2-3-1-System so wichtige defensive Rolle füllt jedoch keiner der drei genannten Spieler zu 100 Prozent aus. Kimmich zeigte zuletzt beim FC Bayern dahingehend zwar deutliche Fortschritte, im Deutschland-Trikot war jedoch häufig zu sehen, dass ihm eine Absicherung gut zu Gesicht stehen würde. Einen Part, den ein Spieler aus der Premier League übernehmen könnte, der aber für die breite Masse noch völlig unter dem Radar fliegt: Vitaly Janelt, der dem Vernehmen nach auf besagter Liste steht.
Vitaly Janelt: Zum Teil besser als die ganz Großen
Der 24-Jährige war zur Saison 2020/21 vom VfL Bochum für eine - vor allem für England-Verhältnisse - läppische Summe von 600.000 Euro zum FC Brentford in die Championship gewechselt. Der Linksfuß avancierte umgehend zum Leistungsträger und verhalf den Bees in seiner ersten Saison zum ersten Premier-League-Aufstieg ihrer Vereinsgeschichte.
Nächstes Spiel
Die Klasse hielt der Klub aus dem Westen Londons souverän. Wie schon in der vergangenen Saison ist Janelt auch im zweiten Jahr in der "stärksten Liga der Welt" Stammspieler. Das wirkt sich auch auf seinen Martkwert aus, der laut transfermarkt.de nun bei 14 Millionen Euro liegen soll - mehr als das 23-fache der damaligen Ablöse. Eine Wertsteigerung, die nicht von ungefähr kommt. Denn Janelt macht seine Sache besonders in einem Punkt besser als die ganz Großen der Liga.
Keiner der tiefen Sechser der aktuellen Top-Teams auf der Insel kann Janelt bei einer der Hauptaufgaben dieser Roller das Wasser reichen: den Zweikämpfen im defensiven Drittel. Das verdeutlicht ein Blick auf die Datenbank von FBref. Sowohl Fabinho vom FC Liverpool, Rodri von Manchester City oder Thomas Partey vom Spitzenreiter FC Arsenal hatten in dieser Zone weniger Duelle als Janelt.
Der gebürtige Hamburger führte in der aktuellen Saison in elf Ligaspielen, wovon er achtmal in der Startelf stand, neun seiner 22 Zweikämpfe vor Brentfords Abwehrreihe. In der vorherigen Spielzeit waren es bärenstarke 26, das Jahr zuvor sogar 39. Insgesamt liegt Janelt bei 74. Zudem gewann er jeweils über die Hälfte von allen seiner Zweikämpfe. Rodri, der maßgeblichen Anteil an den zwei City-Meisterschaften der Skyblues hatte, kommt in den drei Saisons beispielsweise auf 54. Außerdem fängt Janelt viele Bälle ab (100) und schaltet sich mit gezielten Läufen in die Spitze in die Offensive ein (fünf Tore in der Premier League).
Werte, die auch nicht an Flick und dessen Scouting-Team vorbeigegangen sind. "Ich habe ihn zufällig getroffen, als wir im Februar bei Arsenal gespielt haben", verriet Janelt im April dieses Jahres, der der alleinige Grund für die Reise des Bundestrainers war: "Weil Bernd Leno bei Arsenal auf der Bank saß, musste es ja eigentlich wegen mir sein. Das hat er mir auch bestätigt."
Vitaly Janelt im Statistikcheck: Flicks Mann für die Sechs?
- Die geführten Zweikämpfe der besten Premier-League-Sechser im defensiven Drittel im Vergleich:
Spieler | Saison 2020/21 - Spiele (Startelf) | Saison 2021/22 - Spiele (Startelf) | Saison 2022/23 - Spiele (Startelf) |
Vitaly Janelt | 39 (73 insgesamt) - 41 (36)* | 26 (61 insgesamt) - 31 (27) | 9 (22 insgesamt) - 12 (8) |
Rodri | 24 (72 insgesamt) - 34 (31) | 24 (72 insgesamt) - 33 (33) | 6 (18 insgesamt) - 10 (10) |
Fabinho | 21 (58 insgesamt) - 30 (28) | 17 (46 insgesamt) - 29 (26) | 5 (18 insgesamt) - 11 (8) |
Thomas Partey | 16 (44 insgesamt) - 24 (18) | 22 (43 insgesamt) - 24 (23) | 7 (16 insgesamt) - 8 (8) |
*Janelt spielte in dieser Saison mit Brentford noch in der Championship.
Vitaly Janelt: Vom "Skandalprofi" zum WM-Fahrer?
Flick besuchte auch in der laufenden Spielzeit eine Partie von Janelt (gegen Leeds United). Es sei "natürlich schön, wenn er einfach nur da ist und zuschaut, auch wenn ich bisher noch keinen Call-up bekommen habe. Ich mache mir da aber überhaupt keinen Stress", sagte er neulich im Interview mit Sky und gab sich bescheiden: "Ich muss einfach jede Woche hier in Brentford beweisen, warum ich es verdient hätte und genau das ist mein Job. Ich sage immer, dass es ein schöner Bonus wäre und wenn er kommt, bin ich sehr glücklich. Solange das noch nicht passiert ist, muss ich hier jede Woche mein Bestes geben, um ihm die Entscheidung so schwer wie möglich zu machen."
Die Chancen für eine Nominierung stehen nicht schlecht. Es ist davon auszugehen, dass Flick am 10. November bei der Bekanntgabe des finalen Kaders neben dem gesetzten Trio zwei weitere zentrale Mittelfeldspieler, darunter mindestens einen defensiv denkenden, berufen wird. Anstelle von Janelt kommen wohl noch Maximilian Arnold, Anton Stach, Emre Can und Julian Weigl für die beiden offenen Stellen infrage. In Florian Neuhaus, der verletzt ausfällt, hat er bereits einen Konkurrenten weniger.
Dass Janelt Teil von Flicks Planungen ist, ist allerdings alles andere als selbstverständlich. Seine noch junge Karriere stand nämlich schon einmal gewaltig auf der Kippe. Im Alter von 18 Jahren hatte er während eines Trainingslagers der deutschen U19-Auswahl mit Idrissa Touré beim gemeinsamen Shisha rauchen ein Feuer im Hotelzimmer verursacht. Medial wurde er in kürzester Zeit zum "Skandalprofi" abgestempelt. Der DFB schickte die beiden Teenager, damals bei RB Leipzig unter Vertrag, auf eigene Kosten nach Hause.
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Vitaly Janelt: U21-Europameister mit Deutschland
Hinterher stellte sich heraus, dass es sich lediglich um ein Brandloch im Teppich gehandelt hatte. Der Verein suspendierte Janelt, der schon zuvor mit Disziplinlosigkeiten (Pizza aufs Internat bestellt, Missachtung des Zapfenstreichs, Tragen von nicht korrekter Teambekleidung) negativ aufgefallen war, dennoch für mehrere Monate - bis zu seinem Wechsel zum VfL Bochum im Januar 2017 per Leihe. Zudem verdonnerten ihn die Sachsen zu insgesamt 400 Sozialstunden und einer Geldstrafe. Aus dem Internat musste er ausziehen.
In Bochum angekommen, fand Janelt schnell zurück in die Spur, weshalb sich der damalige Zweitligist nach anderthalb Jahren auch zu einer festen Verpflichtung entschloss. Vor seinem Abschied nach England in der Saison 2019/20 gehörte er zum erweiterten Stammspielerkreis des Revierklubs und wurde nach rund drei Jahren Abstinenz auch wieder vom DFB eingeladen. Beim EM-Triumph der U21 anno 2021 kam Janelt als Ergänzungsspieler auf vier Einsätze.
Ein Jahr und fünf Monate später könnte Janelt in ähnlicher Rolle die nächste Reise mit der Nationalmannschaft antreten. Einer der 26 Spieler für Katar zu sein, wäre ein "Bonus", den er sich durchaus verdient hätte.