Jürgen Klopp LiverpoolGetty Images / Goal

Jürgen Klopp und der FC Liverpool in der Krise: Fragen und Antworten zur Lage der Reds


HINTERGRUND

Es ist fast genau ein Jahr her, da vergrößerte der FC Liverpool den Vorsprung auf Manchester City durch einen 2:1-Erfolg über Bournemouth am 29. Spieltag der Vorsaison auf 25 Punkte. Spätestens jetzt war wirklich auch dem Allerletzten klar: Die Reds werden nach 30 Jahren der Leere endlich wieder englischer Meister.

Zwar kam dann Corona und die Fans fürchteten, dass ein Abbruch der Saison den ersehnten Titel doch noch verwehren würde. Aber es lief bekanntlich anders, nach rund dreieinhalb Monaten Pause ging es weiter und Ende Juni 2020 war Liverpool tatsächlich Champion.

Liverpool im März 2021 ist von einem Champion aber meilenweit entfernt, die Lage ist trist. So trist wie nie, seit Klopp im Oktober 2015 den Trainerjob bei den Engländern übernahm. Eine erfolgreiche Titelverteidigung ist längst Utopie, Tabellenführer City hat das Team von Trainer Jürgen Klopp um 22 Punkte abgehängt. Liverpool ist Achter, muss um die Champions-League-Qualifikation fürchten - und die 0:1-Heimniderlage gegen Aufsteiger und Abstiegskandidat Fulham war der vorläufige Höhepunkt der Krise bei den Reds.

Goal und SPOX analysieren die aktuelle Situation in Liverpool. Wie prekär ist die Lage für Klopp und Co.? Muss der deutsche Coach sogar um seinen Job fürchten? Wie könnte eine Perspektive aussehen?

FC Liverpool: Wie prekär ist die aktuelle Lage?

Dass der Traum von der erfolgreichen Titelverteidigung ausgeträumt ist, ist längst klar. Man hat sich andere Ziele gesteckt, will logischerweise zumindest die Qualifikation für die Champions League schaffen. Doch auch die ist inzwischen akut in Gefahr, nach dem 0:1 gegen Fulham beträgt der Rückstand auf CL-Platz vier (Chelsea) vier Punkte - wobei man sogar noch ein Spiel mehr absolviert hat als die Blues. Klopp baute für ein Verpassen der Königsklasse zuletzt bereits vor, betonte, dass es sich dann nur um einen Ausrutscher handelte: "Dieser Verein wird nicht regelmäßig die Champions League verpassen. Dieses Jahr ist schwierig, das wissen wir, aber das Potenzial und die Kraft dieses Klubs sprechen eine andere Sprache."

Vor allem die schier unfassbare Heimschwäche schürt Zweifel, ob Liverpool den Turnaround noch rechtzeitig hinbekommen kann. Die letzten sechs (!) Heimspiele in Folge gingen verloren, darunter auch Pleiten gegen Teams wie Burnley, Brighton oder nun Fulham. Liverpools letzter Heimsieg war ein 2:1 gegen Tottenham Mitte Dezember, also vor knapp drei Monaten.

Gefragt, ob er sich derzeit am Tiefpunkt seiner Trainer-Laufbahn befinde, antwortete Klopp am Sonntag der BBC: "Ich würde gerne Nein sagen. Aber ja, das ist er. Das ist kein Problem, ich muss nicht immer gute Zeiten haben."

FC Liverpool: Was sind die Gründe für die Krise?

"Offensichtlich", sagt Goals Liverpool-Korrespondent Neil Jones, "sind die Verletzungen, die unerbittlich kamen und extremen Schaden angerichtet haben, der Hauptgrund." Vor allem in der Innenverteidigung ist das Verletzungspech der Reds beinahe unglaublich: Virgil van Dijk, der vielleicht entscheidende Faktor für die Erfolge der letzten Jahre, fehlt seit Mitte Oktober (Kreuzbandanriss). Joe Gomez ist seit Anfang November wegen Patellasehnenproblemen nicht verfügbar und Joel Matip war immer wieder mal verletzt, ehe sich der Ex-Schalker Ende Januar eine schwere Knöchelblessur zuzog und seitdem durchgehend fehlt.

Klopp Salah Mane Liverpool 2021GettyBild: Getty Images

Dass drei wichtige Spieler für eine Position so lange ausfallen, steckt wohl keine Mannschaft einfach so weg. Zumal ja auch noch andere Bereiche des Kaders schwer von Verletzungen gebeutelt wurden, Klopp auch Fabinho, Trent Alexander-Arnold, James Milner, Diogo Jota, Thiago oder Jordan Henderson nicht einsetzen konnte oder immer noch nicht kann. Mit den Verpflichtungen von Ozan Kabak (von Schalke) und Ben Davies (von Preston North End) wollte Klopp im Januar die Probleme im Abwehrzentrum lindern, beide Neuzugänge konnten bis dato aber noch nicht überzeugen.

"In der Innenverteidigung gab es in dieser Saison bereits 19 verschiedene Besetzungen", macht Neil Jones das Ausmaß von Liverpools Pech in Sachen Personal in Zahlen greifbar. "Thiago stand zum Beispiel erst zweimal in der Startelf, als hinter ihm zwei gelernte Innenverteidiger spielten. Und nur ein einziges Mal konnte er im Mittelfeldzentrum neben Fabinho auflaufen."

Ausschließlich auf die Verletzungsmisere will Jones die Krise der Reds aber nicht zurückführen. "Es gibt auch taktische Schwierigkeiten", betont er. Die Intensität im Klopp'schen Powerfußball habe schon nach dem Neustart letzten Sommer immer mehr nachgelassen, in der Defensive ist man vor allem gegen schnelle Angreifer extrem anfällig und in der Offensive nicht mehr konstant genug.

"Natürlich hat das Fehlen der etablierten Innenverteidiger das gesamte Team geschwächt, aber Mo Salah, Sadio Mane und Roberto Firmino waren fast die komplette bisherige Saison einsatzbereit. Dennoch tut sich Liverpool dieses Jahr schwer, Tore zu erzielen, vor allem zuhause", sagt Jones.

Ein dritter großer Grund für die Krise in Anfield ist die mentale Müdigkeit. 2019 holte Liverpool die Champions League, 2020 dann auf spektakuläre Art und Weise die Meisterschaft - die Konzentration, den Fokus und den Hunger auf Titel beizubehalten, ist nach solchen Höhen immer eine Herausforderung. "Dazu waren sie nicht in der Lage", muss Jones feststellen und führt aus: "Rund um den Verein hat sich schon seit längerem eine Art Lieblosigkeit eingestellt, das Zusammengehörigkeitsgefühl hat nachgelassen - und das spiegelt sich in der Art des Fußballs und aktuell eben auch in den Ergebnissen wider."

Dass die Fans im Stadion fehlen, hat diese Entwicklung mit Sicherheit weiter verstärkt und den Reds ein Faustpfand genommen, das vor allem ihren Klub schon immer ganz besonders ausgemacht hat.

FC Liverpool: Wer ist neben Klopp ein Gesicht der Krise?

Einen Spieler, der fit ist und spielt, herauszupicken, wäre vermessen. Dafür sind die Leistungen im Kollektiv zu schwach, dafür leisten sich zu sehr immer wieder andere Leistungsträger den einen oder anderen Fauxpas. Daher nennt Liverpool-Korrespondent Neil Jones Virgil van Dijk, der seit Monaten wegen eines Kreuzbandanrisses nicht spielen kann.

"Seine Verletzung hat Liverpool so viel von seiner Aura genommen", erklärt er. "Mit ihm in der Mannschaft - das 2:7 gegen Aston Villa im Oktober mal ausgenommen - traten die Reds sicher und selbstbewusst auf. Ohne ihn werden all ihre Unsicherheiten an die Oberfläche gespült."

In den ersten Wochen nach van Dijks Ausfall konnte Liverpool diesen noch ganz gut auffangen, gewann immerhin sechs der neun ersten Ligaspiele ohne den Niederländer. "Aber es war immer klar, dass sie das irgendwann einholen wird", sagt Jones.

Liverpool in der Krise: Muss Jürgen Klopp um seinen Job bangen?

Dass Klopp ob der sportlich immer prekärer werdenden Lage selbst seinen Hut nehmen könnte, schloss der 53-jährige Deutsche vor einigen Wochen aus: "Wurde ich entlassen oder bin ich gegangen?! Keines von beiden. Ich brauche keine Pause", betonte er auf einer Pressekonferenz.

Aber muss Klopp nach rund fünfeinhalb Jahren in Anfield derzeit fürchten, möglicherweise entlassen zu werden? "Im Moment nicht", sagt Neil Jones. "Aber er ist natürlich nicht dumm. Er weiß, dass Liverpool-Trainer ständig unter Druck leben - und wenn eine Mannschaft all diese schlechten Geschichten schreibt wie seine aktuell, dann erhöht sich dieser Druck exponentiell."

Jurgen Klopp LiverpoolGettyBild: Getty Images

Noch hat Klopp jedenfalls weiterhin das Vertrauen der Klub-Besitzer, den Nimbus des Unumstrittenen angesichts der Ergebnisse aber logischerweise auch nicht mehr. "Liverpools Kader ist weitaus besser als das, was sich derzeit in den Ergebnissen und am Tabellenstand ablesen lässt. Der Trainer kitzelt momentan nicht das aus der Mannschaft heraus, was er aus ihr herauskitzeln sollte", betont Jones.

Liverpool: Was kann Klopp tun, um die Wende zu schaffen?

Schon in Dortmund wurde Klopp für seinen intensiven Heavy-Metal-Fußball gefeiert, der jeden Fehler des Gegners knallhart bestraft, der leidenschaftlich und voller Leben ist. In Liverpool hat er sich ein Team zusammengestellt, das seine Art zu spielen noch weiter perfektionierte, das daraus noch größere Erfolge produzierte und dementsprechend noch mehr Anerkennung dafür bekam.

Doch die Wucht des Klopp-Fußballs bringt Liverpool momentan nicht auf den Platz, das belegt zahlenmäßig die Tatsache, dass die Reds in den letzten sieben Premier-League-Partien nur vier Tore zustande brachten, in drei der letzten vier Pflichtspiele ohne eigenen Treffer blieben. "Es gibt dieses Sprichwort: Wahnsinn ist, Dasselbe immer wieder zu wiederholen und andere Ergebnisse zu erwarten", sagt Jones. "Liverpool scheint in diese Falle getappt zu sein. Sie wollen immer noch so spielen wie das alte Liverpool - hoch pressen mit hoch und extrem breit stehenden Außenverteidigern, das volle Programm eben -, obwohl eindeutig ersichtlich ist, dass das in der Offensive nicht mehr funktioniert und dass die gegnerischen Teams Wege gefunden haben, sich effektiv dagegen zu stemmen."

Ein Umdenken in der taktischen Grundausrichtung, vielleicht auch im System, könnte also Besserung bringen. Klopp muss sich möglicherweise ein Stück weit neu erfinden, um die Saison doch noch zu einem versöhnlichen Ende zu führen. "Die Rückkehr von Diogo Jota könnte dabei wichtig werden, vielleicht auch jene von Naby Keita", sagt Neil Jones. "Und Fabinho sollte von nun an auf jeden Fall im Mittelfeld spielen."

FC Liverpool: Gibt es Parallelen zur letzten BVB-Saison von Jürgen Klopp?

2008 heuerte Klopp in Dortmund an und weckte einen schlafenden Riesen. Er formte ein Top-Team, das zweimal hintereinander den Bayern ein Schnippchen schlug und Deutscher Meister wurde, das 2013 im Champions-League-Finale stand und ganz nahe dran war am Gewinn des Henkelpotts.

In der Saison 2014/15, Klopps schließlich letzter in Dortmund, rutschte der BVB aber in eine Krise unverhofften Ausmaßes. Vom Tabellenplatz her sogar deutlich größeren Ausmaßes als jene nun in Liverpool, nach der Hinrunde standen Klopp und Co. auf Abstiegsplatz 17. Auch damals waren Verletzungen ein wichtiger Grund dafür, so musste Klopp vor allem in der ersten Saisonhälfte immer wieder auf Schlüsselspieler wie Mats Hummels, Ilkay Gündogan, Marco Reus, Henrikh Mkhitaryan oder Nuri Sahin verzichten.

Vergangenen Freitag wurde Klopp auf einer Pressekonferenz auf ebenjene Spielzeit in Dortmund angesprochen, wiegelte Parallelen aber ab, weil die Verletzungen seinerzeit kurzfristiger waren und er wusste, dass es in der Rückrunde besser werden würde. Und so kam es dann auch, mit einer starken zweiten Saisonhälfte kämpfte sich der BVB noch auf Rang sieben vor.

"In Liverpool sieht das jetzt anders aus", erklärt Jones. "Van Dijk, Gomez, Matip und Henderson fallen weiterhin langfristig aus, die Stabilität im Team wird also nicht über Nacht wieder zurückkommen." Zudem, betont Jones, sei ein Vergleich mit einer zurückliegenden Saison speziell in diesen Zeiten ohnehin schwierig: "Wir erleben schließlich eine absurde Spielzeit mit leeren Stadien, einem unfassbar engen Terminkalender, Regeländerungen mitten in der Saison, Champions-League-Heimspielen in Ungarn etc."

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