KOLUMNE
Als Jude Bellingham beinahe auf den Tag genau elf Monate alt war, ereignete sich der Sündenfall des deutschen Fußballs: Am 30. Mai 2004 manipulierte Robert Hoyzer bei der Regionalliga-Begegnung zwischen dem Wuppertaler SV und Werder Bremen II (1:0) nachweislich erstmals ein Fußballspiel. Einer der beiden Linienrichter damals: Felix Zwayer.
"Man gibt einem Schiedsrichter, der schon mal Spiele verschoben hat, das größte Spiel in Deutschland", sagte der Engländer im norwegischen Fernsehen: "Was erwartest du?"
Der DFB verurteilte Bellingham daraufhin wegen "unsportlichen Verhaltens" zu einer Geldstrafe in Höhe von 40.000 Euro, doch damit ist das Thema längst nicht aus der Welt.
Zwayer: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht
"Bellingham spricht nur aus, was alle wissen", titelte Zeit Online. Und BVB-Boss Hans-Joachim Watzke erklärte: "Jude hat niemanden beleidigt, sondern ein Faktum geschildert."
Nächstes Spiel
Das ist zwar nicht ganz richtig, weil man Bellinghams rhetorische Frage im Nachsatz durchaus so verstehen kann, dass bei Zwayer auch weiterhin die Gefahr einer Spielmanipulation möglich ist.
Dabei geht es weniger darum, dass die meisten Experten den für Bayern spielentscheidenden, nachträglich gegebenen Handelfmeter gegen Mats Hummels als vertretbar ansahen.
Ebenso wenig spielt es eine Rolle, dass der nicht gegebene Strafstoß zuvor nach einem Schubser von Lucas Hernandez gegen Dortmunds Kapitän Marco Reus ziemlich sicher vom Video-Schiedsrichter wegen einer vorherigen Abseitsstellung von Erling Haaland aberkannt worden wäre.
Vielmehr geht es um die Frage, ob Zwayer nach der oben genannten Vorgeschichte überhaupt noch als Schiedsrichter pfeifen sollte. Denn sein Ruf in der Liga ist anscheinend komplett ramponiert, nach dem Motto: "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht."
Dabei liegt der Fehler keineswegs nur beim Unparteiischen aus Berlin. Auch der DFB hat großen Anteil an der Situation und Zwayers einstiger Freund Manuel Gräfe ist ebenfalls beteiligt. Ein Überblick:
Das Problem Zwayer
Zwayer und Hoyzer waren seit etwa zehn Jahren gut bekannt, als er als Linienrichter beim von Hoyzer verschobenen Spiel in Wuppertal fungierte. Der Siegtreffer der Gastgeber fiel durch einen Elfmeter in der anderen Hälfte. Laut DFB-Sportgericht habe Zwayer nicht aktiv an einer Manipulation zugunsten des WSV teilgenommen, daher seien ihm keine absichtlich getroffenen ‘sportwidrigen Entscheidungen’ nachzuweisen gewesen.
Der später wegen Wettbetrugs vor Gericht zu zwei Jahren und fünf Monaten Haft verurteilte Hoyzer hat das allerdings in seinen umfassenden Vernehmungen anders dargestellt. Demnach habe Zwayer "durch entsprechendes Winken und Nichtwinken" seinen Anteil am erwünschten Ergebnis gehabt. Das DFB-Sportgericht folgte in seinem späteren Urteil den Aussagen Hoyzers, wonach dieser seinem Assistenten vor der Partie im Hotel 300 Euro für dessen Mithilfe übergab. Zwayer bestreitet allerdings bis heute, dass eine solche Geldannahme stattgefunden hat.
Erst mehr als ein halbes Jahr später aber offenbarte sich Zwayer kurz vor Weihnachten seinem Schiedsrichterkollegen Manuel Gräfe, der daraufhin den Berliner Vertrauensmann der Unparteiischen, Lutz-Michael Fröhlich, informierte. So kam der größte Wettskandal im deutschen Fußball zur Jahreswende 2004/05 ans Licht. Auch gegen Zwayer ermittelte die Staatsanwaltschaft und ließ sogar seine Wohnung durchsuchen, stellte das Verfahren aber im selben Jahr wegen "geringfügiger Schuld" ein.
Zwayer war Kronzeuge im Hoyzer-Fall
"Was viele nicht wissen: Felix Zwayer gab damals den entscheidenden Impuls für die Aufklärung des sogenannten Hoyzer-Skandals", sagte Fröhlich, heute Vorsitzender der DFB-Schiedsrichter-Kommission Elite, diese Woche der Sport Bild: "Ohne seine Information hätte es damals, zu diesem Zeitpunkt, keine Anzeige des Vorfalls gegeben.”
Zwayers Anteil an der Aufklärung war für das DFB-Sportgericht maßgeblich, nur eine Sperre von sechs Monaten auszusprechen, obwohl er das Geld angenommen hatte und mehrere Monate mit der Meldung gewartete hatte. "Es ist davon auszugehen, dass Felix Zwayer dem ersten Anwerbeversuch Robert Hoyzers nicht in der von einem redlichen Schiedsrichter zu erwartenden Art und Weise widersprochen und das Geld entgegengenommen hat", erklärte das Gericht unter Vorsitz des heute wieder mal als DFB-Präsident aushelfenden Rainer Koch.
Getty ImagesDFB hielt Zwayers Verurteilung unter Verschluss
Allerdings wurde das Urteil unter Verschluss gehalten, möglicherweise, um Zwayer die Rückkehr als Schiedsrichter zu erleichtern. Zwayer bestritt im August 2009 mit gerade einmal 28 Jahren sein erstes Bundesligaspiel, wurde 2012 zum FIFA-Referee befördert und im September 2014 vom DFB als Deutschlands Schiedsrichter des Jahres ausgezeichnet.
Erst wenige Wochen später wurde Zwayers aktive Beteiligung am Hoyzer-Skandal durch einen Bericht der Zeit öffentlich, dennoch tat das seiner Karriere keinen Abbruch. Bis heute wird der Immobilienkaufmann regelmäßig bei Bundesliga-Topspielen eingesetzt.
"Ich habe als junger Mann den Fehler gemacht, nicht sofort, sondern erst nach zu langer Überlegung einen Vorfall anzuzeigen. Das war falsch und ich bin dafür bestraft worden", sagt Zwayer heute - weshalb er offenbar auch nie darüber nachgedacht hat, freiwillig die Karriere zu beenden: "Damit muss es dann aber auch gut sein."
Ist es aber nicht, wie die Aussagen nach dem Spiel in Dortmund zeigen. Denn bei jedem Fehler wird der Verweis auf dessen unlauteres Verhalten wieder hervorgeholt, mindestens hinter vorgehaltener Hand. Und Zwayer gibt aus zwei Gründen immer wieder Anlass zur Kritik. Zum einen, weil er alles andere als fehlerfrei pfeift. Immer wieder gibt es Diskussionen um seine Spielleitung, etwa bei seinem nicht geahndeten Foul gegen Bayerns Javi Martinez im Strafraum beim DFB-Pokal-Finale 2018.
Ex-Kollege über Zwayer: “Er ist eine Diva”
Zwar rechtfertigte Fröhlich die Nominierung für das Spitzenspiel zwischen BVB und Bayern und behauptete in der Sport Bild, Zwayer pfeife "bislang eine sehr gute Bundesliga-Saison". Doch im Noten-Ranking des kicker liegt er beispielsweise gerade mal auf Platz 18 von insgesamt 23 Schiedsrichtern. "Er ist gut, aber so gut, wie er selbst glaubt, ist er nicht. Es reicht nicht für ganz oben, deshalb wurde er ja auch nicht für die EM dieses Jahr nominiert", sagt ein Insider.
Hinzu kommt sein von vielen Spielern und Verantwortlichen als überheblich und unnahbar wahrgenommenes Auftreten auf dem Platz. "Er war sehr arrogant", erklärte Erling Haaland am Samstag.
"Er ist eine Diva, sein Auftreten kommt nicht übermäßig gut an", sagt ein früherer deutscher FIFA-Schiedsrichter. "Man muss einen Draht zu den Spielern finden. Das gelingt dir nicht, wenn du wie ein Gockel herumläufst."
Fall Zwayer: Das Problem Gräfe
Manuel Gräfe war der erste, dem der acht Jahre jüngere Zwayer von Hoyzers Manipulationsversuchen erzählte. In der Folgezeit verteidigte Gräfe seinen damaligen Freund immer wieder gegen Vorwürfe, selbst an den Manipulationen beteiligt gewesen zu sein.
"Jemand, der die Courage besitzt, sich gegen Einflussnahme zu wehren, sich nach einem halben Jahr DFB-Zugehörigkeit an der Aufklärung zu beteiligen, der wird jetzt angeprangert", sagte Gräfe damals dem Tagesspiegel und warf Hoyzer einen Rachefeldzug vor.
Auch er will erst 2014 von der Beteiligung Zwayers erfahren haben, nach der er öffentlich mit Zwayer brach. Seitdem lässt er kein gutes Haar mehr an seinem einstigen Kollegen. "Wer einmal Geld angenommen und Hoyzers Manipulation ein halbes Jahr verschwiegen hat, sollte keinen Profifußball pfeifen", sagte Gräfe dem Zeit Magazin vergangenes Jahr.
Auch nach dem Spitzenspiel kritisierte er als TV-Experte Zwayers Leistung als spielentscheidend, ihm habe die Balance gefehlt. Der Kontrast zwischen dem unnahbaren Zwayer und dem Kumpeltyp Gräfe, gegen dessen altersbedingten Ruhestand im Sommer zahlreiche Bundesligavertreter protestiert hatten, könnte in der öffentlichen Wahrnehmung kaum größer sein.
Doch nicht nur in der Schiedsrichterzunft wird das anders gesehen. Bellinghams Aussagen seien "augenscheinlich auch das Ergebnis, dass einzelne Personen dieses Thema in 17 Jahren immer wieder strapaziert haben", meinte Fröhlich mit Verweis auf Gräfe. Und der norddeutsche Schiedsrichter-Beobachter Marco Haase stellte privat nicht nur gegen Bellingham Strafanzeige wegen Beleidigung, Verleumdung und übler Nachrede. Sondern auch gegen Gräfe, den er offenbar als Drahtzieher vermutet.
Schiedsrichter untereinander sind sich teils spinnefeind
"Gräfe sieht sich als Opfer, von daher ist es seine persönliche Vendetta mit Zwayer. Er hat dessen Erfolg nicht verkraftet", glaubt ein langjähriger Spitzenreferee. Und ein anderer Kenner bezeichnet Gräfe als "menschlichen Stinkstiefel", dessen Ziel es sei, Zwayers Reputation zu zerstören.
Unbestritten ist wohl, dass Gräfe schon länger ein Problem mit dem DFB-Schiedsrichtersystem hat, das er für die fehlende Qualität und mangelnde Fairness untereinander verantwortlich macht. Die schlechte Führung sei auch für den Selbstmordversuch seines Ex-Kollegen Babak Rafati mitverantwortlich.
Mehrfach und mit teils drastischen Worten hat er vor allem die früheren Bosse Herbert Fandel und Hellmut Krug angegriffen, auch wegen Zwayers Aufstieg. "Wie kann so jemand bis in die Spitze der deutschen Top-Schiedsrichter kommen?", sagte er 2017 dem Tagesspiegel: "Kann es vielleicht sein, dass Fandel und Krug dort einen Mann haben wollten, der ihnen zu bedingungsloser Loyalität verpflichtet war?"
Getty ImagesFall Zwayer: Das Problem DFB
Womit man am Ende wieder da ankommt, wo die aktuellen Probleme ihren Anfang nahmen. Schließlich hätte der DFB die anhaltenden Diskussionen um Zwayer vermeiden können, wenn er das damalige Urteil nicht verheimlicht hätte. Oder wenn er den Berliner allein schon aus Selbstschutz nicht mehr als Unparteiischen eingesetzt hätte.
"Wenn ich Schiedsrichter-Chef beim DFB gewesen wäre und es einen Schiedsrichter gegeben hätte, der Geld angenommen hätte, der wäre bei mir nie mehr Schiedsrichter gewesen. Da gäbe es eine Nulltoleranz", sagte der langjährige Schweizer Spitzen-Referee Urs Meier Anfang der Woche im Gespräch mit GOAL und SPOX.
Es ist ein hausgemachtes Problem des Verbandes, der glaubte, Jünglinge wie Bellingham würden sich für Geschichte nicht interessieren. Dieser Irrglaube basiert aber nach Ansicht von Fachleuten auf den grundsätzlichen Defiziten im Bereich der Unparteiischen.
"Da sind Leute in Positionen gekommen, für die sie einfach nicht gut oder weit genug waren. Und es fällt doch auf, dass in den vergangenen Jahren alle, die nicht uneingeschränkt auf einer Wellenlänge mit der Führung lagen, also nicht zu allem Ja und Amen gesagt haben, auf verschiedenen Ebenen bearbeitet wurden", urteilte Gräfe.
Zwayers Aufstieg von einem Kastensystem im DFB begünstigt?
Der kicker ging in seiner Analyse sogar noch weiter. "Zwayers Weg in die Elite steht sinnbildlich für ein Kastensystem im DFB-Schiedsrichterwesen, in dem regionales Proporzdenken, Beziehungsgeflechte und politische Ränkespiele den Blick aufs Wesentliche – die Qualität – verstellen. Loyalität schlägt Leistung und Fitness Persönlichkeit. Welche Schiedsrichter fördert der DFB – und warum? Das ist die Kernfrage. Man sollte sie lauter stellen als bisher: nicht nur, aber auch wegen Felix Zwayer", kommentierte das Blatt diese Woche.
Das liegt aber nicht nur an den Schiedsrichtern selbst, deren aktueller Chef Fröhlich als durch und durch integer gilt. Vielmehr hat das Chaos im gesamten Verband dazu geführt, dass viele sich gerne in den Chor der Kritiker einreihen, echte Strukturänderungen aber mangels Verantwortlichkeiten nicht angegangen werden.
"Der Fehler liegt in der kopflosen DFB-Spitze, die sich nicht wirklich kümmert. Und die DFL hält sich raus", sagt ein früherer Spitzenmann. "Das ist ein Systemfehler: Von der Kreisliga bis zur Bundesliga bestimmen Regionalproporz und subjektive Bewertung die Auswahl. Deshalb ist nicht immer der Beste vorne."
Die einzige Lösung, um diesen gordischen Knoten zu zerschlagen, wäre ein anderes System. So wie in England, wo schon 2001 die Schiedsrichter-Gesellschaft aus dem Verband ausgegliedert und professionalisiert wurde. "Und dann würde ein Zwayer nicht mehr pfeifen", meint ein Insider.