HINTERGRUND
Für gewöhnlich wird die Bekanntgabe eines neuen Spielers von den Fans eines Vereins wohlwollend und mit Beifall zur Kenntnis genommen. Gerade dann, wenn alle Welt und auch die eigenen Spieler jenem Verein aufgrund der Kadergröße ein böses Erwachen im Saisonverlauf prognostizieren. Bei der Verkündung des FC Bayern München im August, man habe Ivan Perisic auf Leihbasis von Inter Mailand verpflichtet, war das jedoch anders.
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Das lag einerseits daran, dass Bayern-Präsident Uli Hoeneß die Erwartungen der eigenen Fans an die Sommertransfers des deutschen Rekordmeisters ins Unermessliche gehoben hatte ("Wenn Sie wüssten, wen wir schon alles sicher haben ..."). Andererseits lag das aber auch daran, dass Ivan Perisic eben Ivan Perisic war und nicht Leroy Sane.
Nach dessen Kreuzbandverletzung wurde ein Wechsel nach München vorerst abgesagt - also holten die Bayern den Kroaten Perisic. Jenen 30-Jährigen, den Antonio Conte bei Inter Mailand nicht mehr haben wollte. Der es vor Jahren beim bajuwarischen Erzrivalen Borussia Dortmund nicht über den Status des Ergänzungsspieler hinaus geschafft hatte.
Den Stempel der B-Lösung hatte Perisic auch deshalb bei vielen Bayern-Fans schneller aufgedrückt bekommen, als er den anwesenden Journalisten auf seiner Vorstellungs-PK die korrekte Aussprache seines Nachnamens erklären konnte.
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Perisic beim FC Bayern: Die prophetische Kritik des Niko K.
Einer, dem das ganz und gar nicht gefiel, war Niko Kovac, der Perisic einst selbst als Nationaltrainer Kroatiens betreut hatte. "Man macht hier einen Spieler schlecht", sagte der sichtlich erzürnte Bayern-Trainer: "Man kann nicht über eine B-, C- oder D-Lösung sprechen. Da müssen wir uns alle mal hinterfragen."
Eine Kritik, die knapp anderthalb Monate später fast schon prophetisch daherkommt. Vier Einsätze für den neuen Arbeitgeber hat Perisic mittlerweile absolviert und war dabei bereits an vier Toren direkt beteiligt. Gemessen an seiner Einsatzzeit (275 Minuten) ist er damit nach Robert Lewandowski und Serge Gnabry der effektivste Bayern-Spieler.
Alle 68 Minuten ist Perisic an einem Treffer beteiligt, bei Lewandowski sind es derer 62. Übertrumpft werden beide aktuell lediglich von Gnabry, der nach seinem grandiosen Viererpack bei Tottenham auf 57,7 Minuten pro Scorerpunkt kommt. Die einst verschmähte B-Lösung ist angekommen beim FCB und kratzt sogar am Alpha-Status.
Getty Images"Alle drei", sagte Kovac noch vor der Bayern-Gala gegen Tottenham und meinte damit seine Optionen auf den Außen mit Gnabry, Perisic und Kinsgley Coman, "befinden sich auf Augenhöhe". Eine Stammplatzvergabe auf den Flügeln hatte er bereits eine Woche vorher ausgeschlossen. Dass sich Perisic als echte Verstärkung herauskristallisiert, ist auch an Karl-Heinz Rummenigge nicht vorbeigegangen. Jener Rummenigge, der sich im Sommer noch viele Fragen in puncto Transferpolitik gefallen lassen musste.
An seinem 64. Geburtstag ließ er es sich nicht nehmen, den Leihspieler für die vergangenen Wochen zu loben. "Ivan Perisic hat die Erwartungen absolut erfüllt", stellte Rummenigge fest - und die von vielen übertroffen.
Ivan Perisic: "Weltklasse an beiden Enden einer Flanke"
Diejenigen, die den Transfer kritisierten, sahen in Perisic bei dessen Ankunft nicht den zweitbesten Torschützen und besten Vorlagengeber bei Inter Mailand in den vergangenen vier Jahren (37 Tore, 31 Vorlagen), sondern den BVB-Ersatzspieler oder den Perisic, der selbst für einen Klub wie Inter mittlerweile offenbar zu schlecht war und deswegen aussortiert wurde.
Dass er nicht wegen mangelnder Leistungsfähigkeit, sondern wegen eines Streits, Kabinen-Interna und dem geplanten radikalen Neuanfang unter Antonio Conte weichen musste, interessierte nicht. Ebensowenig von Belang war, dass Perisic beidfüßig, dribbel-, lauf-, und abschlussstark ist, eine gute Physis hat und für 20 Millionen Euro im kommenden Sommer fest verpflichtet werden könnte.
20 Millionen für einen Spieler, der gegen England im WM-Halbfinale 2018 mit einem Tor, einer Vorlage und einem unglaublichen Laufpensum bewiesen hatte, auch große Spiele entscheiden zu können. Der aufgrund seiner Kopfballstärke vom Taktikblog Spielverlagerung im vergangenen Jahr als "Weltklasse an beiden Enden einer Flanke" bezeichnet wurde. Eher ein Schnäppchen, denn eine B-Lösung.
Ivan Perisic macht die Offensive des FC Bayern unberechenbarer
Von "Weltklasse" war Perisic zwar in seinem wohl letzten Jahr bei Inter Mailand weit entfernt, doch das hatte Gründe. Da war zum einen diese kräftezehrende WM im Sommer, die ihren Tribut gerade bei den Kroaten und ihren Stars wie Ivan Rakitic, Luka Modric oder eben Perisic forderte. Da war zum anderen aber auch die mangelnde individuelle Qualität des Inter-Kaders und ein interner Zwist zwischen Perisic und Icardi, den zwei Leadern der Inter-Offensive. Beide brachen im Laufe der Saison und unter gütiger Mithilfe von Icardi-Ehefrau Wanda Nara miteinander. Beide verließen Inter im Sommer.
Das alles ist mittlerweile aber ebenso Geschichte wie Perisics Stempel der B-Lösung. Bereits in der frühen Phase der Saison zeigt sich, dass er das unter Kovac sehr flügellastige und für seine Einfallslosigkeit vielgescholtene Spiel der Bayern bereichern und unberechenbarer machen kann. Weil er anders agiert als Gnabry oder Coman. Nicht so verspielt, etwas direkter und physischer. Weil er auch mal ins Zentrum rückt und Hereingaben verwertet.
Bislang durfte Perisic diese Qualitäten nur in den Spielen von Beginn an zeigen, die der FC Bayern ohnehin als Pflichtsiege eingeplant hatte - gegen Roter Stern Belgrad, den FSV Mainz 05 und den 1. FC Köln. Die großen Bühnen gegen Leipzig und Tottenham waren Coman und Gnabry vorbehalten. Dass das ein dauerhafter Status sein wird, muss jedoch nicht sein.
"Er hat gezeigt, dass er auf demselben Niveau spielt wie die anderen beiden", sagte Kovac, der von Perisic schon immer überzeugt war. Dieses Vertrauen will er zurückzahlen und seinen aktuellen Leihstatus nachhaltig verändern. "Ich kann den Klub davon überzeugen, mich zu halten", sagte Perisic erst kürzlich im Gespräch mit The Athletic. Eine feste Verpflichtung sei sein Wunsch, für den er "alles tun" werde.
Dass Perisic bei seiner Ankunft in München ein schlechtes Standing hatte, war nichts Neues für ihn. "Ich kam immer durch die kleine Tür in meine Klubs", sagte Perisic. Dass er durch eine ähnlich kleine Tür den FC Bayern irgendwann wieder verlassen wird, erscheint aktuell eher unwahrscheinlich.