Als Ronaldo, Ronaldinho, Rivaldo und Co. am 30. Juni 2002 mit ihren Landesflaggen bedeckt um die Wette strahlten, weil sie gerade Weltmeister geworden waren, saß Mario Jardel wahrscheinlich tief traurig vor dem Fernseher. Obwohl er selbst Brasilianer ist, hielt sich seine Begeisterung für die Selecao jener Tage vermutlich in Grenzen.
"Wenn ich nicht zur WM fahre, wird mich das traumatisieren", hatte Jardel einige Wochen zuvor gesagt, nachdem er Sporting Lissabon in Portugal überraschend zur Meisterschaft geschossen hatte. Doch Brasiliens Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari verzichtete auf Jardel. Wohl auch, weil er das Teamklima nicht gefährden wollte, indem er für Jardel die so prächtig funktionierende Offensive um den nach langer Verletzung gerade wieder in Bestform gekommenen Ronaldo sprengen würde. Jardel sollte ob seiner Prophezeiung jedenfalls Recht behalten.
Der Stürmer, wohl der beste Kopfballspieler seiner Zeit und ein Torjäger, wie er im Buche steht, machte 1995 erstmals so richtig auf sich aufmerksam. Mit zwölf Toren in 14 Einsätzen führte der damals 21-jährige Jardel Gremio Porto Alegre zum Gewinn der Copa Libertadores. Ein Wechsel nach Europa war nur eine Frage der Zeit, im Sommer 1996 schlug der FC Porto zu.
Und in Portugal wurde Jardel zur Legende. Bei Flanken war er kaum zu verteidigen, sein Torhunger unbändig. Einen Treffer zu erzielen, so sagte er mal, war für ihn wie ein Orgasmus. Er war förmlich süchtig danach. Viermal in Folge wurde er Torschützenkönig, dreimal Meister mit Porto, 1998 und 1999 gewann Jardel gar den Goldenen Schuh für den besten Torjäger Europas.
Mario Jardel: Der ersehnte Wechsel zum Topklub scheitert
Die Saison 1999/2000 war die vorläufige Krönung. 54 Tore erzielte er für Porto in nur 49 Spielen, in der Champions League traf er doppelt beim 2:1-Sieg gegen Real Madrid und dank seiner Tore hatte Porto den FC Bayern im Viertelfinale am Rande des Ausscheidens. Eigentlich, sollte man meinen, hätte sich Jardel im Sommer 2000 aussuchen können, wo er hingeht.
Nächstes Spiel
Unbedingt wollte er in eine der ganz großen europäischen Ligen, am liebsten nach Italien oder Spanien. Um sich für die Nationalmannschaft, für die er seit seinem Debüt 1996 bis dato nur noch drei weitere Male berücksichtigt worden war, endlich besser empfehlen zu können.
Real Madrid soll interessiert gewesen sein, zudem allen voran Inter Mailand. Doch ein Transfer dorthin kam aus unbekannten Gründen nie zustande. Man munkelte, die Topklubs hätten ob Jardels schwierigem Charakter dann doch noch kalte Füße bekommen. Und so ging der Brasilianer statt zu Inter oder Real letztlich in die Türkei zu Galatasaray.
Auch in Istanbul, wie sollte es anders sein, traf Jardel wie am Fließband. Gleich im ersten großen Spiel, im UEFA Supercup gegen Champions-League-Sieger Real, gelangen ihm beide Tore zum 2:1-Erfolg nach Verlängerung, in der Königsklasse führte er Gala mit seinen Treffern bis ins Viertelfinale. Weil er mit den Verantwortlichen des türkischen Topklubs aber nie so richtig warm wurde, war schon ein Jahr nach seiner Ankunft wieder Schluss.
Sporting holte den damals 27-Jährigen für den Schnäppchenpreis von rund sechs Millionen Euro zurück nach Portugal. Und der Rückkehrer legte eine Über-Saison hin, traf 42-mal in 30 Liga-Einsätzen und schnappte sich seinen dritten Goldenen Schuh, vor Legenden wie Raul, Hernan Crespo oder Ruud van Nistelrooy. Zudem holte Sporting dank Jardel das Double in Portugal.
Mario Jardel: Sündenbock für Copa-America-Blamage 2001
Auf ein Ticket zur WM 2002 in Japan und Südkorea hoffte Jardel aber trotz allem vergebens. Zusätzlich zur starken Konkurrenz haftete Jardel weiterhin der Makel an, bei der Copa America 2001 seine Chance nicht genutzt zu haben. Er enttäuschte auf ganzer Linie, hatte nach dem blamablen Viertelfinal-Aus gegen Honduras in Brasilien den Versagerstempel weg. Es sollte auf ewig sein letzter von nur zehn Einsätzen für die Selecao bleiben.
Und als zum geplatzten WM-Traum auch noch die Scheidung von seiner Frau hinzu kam, verfiel Jardel in eine Depression. Er war tatsächlich traumatisiert, bekam sogar Drogenprobleme. "Alles fing an mit den falschen Freunden. Dann kam meine Scheidung, Depression, Drogen. Das kommt im Fußball häufig vor, aber ich kann nicht viel darüber reden", gestand Jardel Jahre später in einer brasilianischen TV-Show.
GettyImagesKokain habe er konsumiert, gab er zu. "Aber nie während der Saison. Immer nur in den Pausen." Der sportliche Abstieg war da längst eingeläutet. Ein ordentliches Jahr hatte er 2002/03 noch bei Sporting, dann begann eine Odyssee: Bolton Wanderers, Ancona, Newell's Old Boys, Goias, Beira Mar, Anorthosis Famagusta. Nirgendwo konnte er auch nur annähernd an die Torquoten seiner Glanzzeit anknüpfen, hatte mit Übergewicht zu kämpfen. Statt gefürchtet wurde Jardel nun mitunter verspottet.
"Als ich zu kleineren Mannschaften ging, wie sollte ich dort treffen, wenn kein Mitspieler mir den Ball in den Fuß spielen konnte?", verteidigte er sich. "Alles wurde immer schlimmer, es war ein Schneeballeffekt."
Nach Abstechern zu Newcastle Jets nach Australien und ein paar kleineren Vereinen in Brasilien erzielte Jardel im Herbst 2010 noch ein allerletztes Tor in Europa. Inzwischen 36-jährig traf er in Bulgariens erster Liga, für Cherno More Varna. Immerhin der 1:0-Siegtreffer gegen Lok Sofia.
Anfang 2012 beendete er seine Karriere als Fußballer dann endgültig. Weit weg von damals, als er einer der gefürchtetsten Stürmer Europas war. Er war in Vergessenheit geraten.
Und doch hat die Geschichte des Mario Jardel ein Happy End: Mit Drogen hat er, wie er betont, heute nichts mehr zu tun. Stattdessen engagiert er sich als Staatsvertreter im Süden Brasiliens. "Für ein besseres Rio Grande (Bundesstaat in Brasilien, d. Red.)", steht ganz oben auf seinem Instagram-Profil. Inzwischen könnte er sich wohl auch über einen WM-Titel für sein Heimatland wieder freuen.