HINTERGRUND
Jeder Fußballfan kennt es: Dieses Kribbeln wenige Tage vor einer Weltmeisterschaft. Für die meisten Nationen gleicht die Teilnahme an einer Endrunde einem Fest, die Vorfreude ist riesig. Bei Frankreich war im Jahr 2010 das Gegenteil der Fall.
Das zeichnete sich bereits einige Monate vorher ab. Die Equipe Tricolore verpasste die direkte Qualifikation für das Turnier in Südafrika, die Play-offs waren also die letzte Chance auf ein Ticket für die erste WM auf afrikanischem Boden. Doch es sollte zu einem ersten Skandal kommen.
Nach einem 1:0-Auswärtssieg in Irland stand es im Rückspiel vor eigenem Publikum aus der Sicht Frankreichs nach 90 Minuten 0:1. Eine Entscheidung musste also in der Verlängerung oder gar dem Elfmeterschießen her. Nach 103 Minuten segelte ein Freistoß von Les Bleus in den Sechzehner, Thierry Henry nahm den Ball mit der Hand mit und legte quer auf William Gallas, der nur noch einschieben brauchte.
Frankreich zitterte sich zur WM und es war wenig verwunderlich, dass der Aufschrei hinterher nicht lange auf sich warten ließ – sogar die heimische Presse prügelte auf Henry ein. Jahre später gab dieser zu, dass dieser Spießrutenlauf keine einfache Zeit für ihn persönlich war. Sein langjähriger Teamkollege Nicolas Anelka sprang ihm in der Dokumentation "Anelka: Misunderstood" zur Seite: "Bei Maradona war es die Hand Gottes, bei Henry war es quasi ein Verbrechen." Statt Dankbarkeit erntete Henry Hass.
Wenige Tage vor dem WM-Start sollte es nicht besser laufen. Anelka, Henry und Co. blamierten sich erst gegen Tunesien (1:1) und verpatzten dann die Generalprobe gegen den Fußballzwerg China (0:1). Anelka verriet nun, dass er bereits vor dem Turnier ans Aufgeben dachte.
GettyBild: Getty ImagesMit dem Trainer gab es Differenzen bezüglich seiner Position, Raymond Domenech sah ihn ganz vorne in der Spitze, Anelka selbst war der Meinung, dass er der Mannschaft am meisten helfen könne, wenn er sich gelegentlich tiefer fallen lässt und sich die Bälle im Mittelfeld abholt.
"Ich musste selbst mehr zur Lösung beitragen. In der Spitze warten, bis was passiert, das kann ich nicht", erklärte er. Er ahnte, dass ein katastrophales sportliches Abschneiden unter diesen Umständen durchaus wahrscheinlich werden dürfte. Dennoch ließ sich Anelka, der als schwieriger Charakter galt und schon als 16-Jähriger seinen Trainer bei PSG zur Aussage brachte, er wisse nicht, ob er "elf Anelkas um mich herum ertragen könnte", von seinen Teamkollegen überreden, die WM ganz normal zu bestreiten.
Das Auftaktspiel gegen Uruguay endete torlos, Anelka stand in der Startformation, ohne groß zu glänzen. Beim zweiten Spiel stand die große Nation aus Europa gegen den nordamerikanischen Vertreter Mexiko schon etwas unter Druck, sollte der Einzug in die K.o.-Phase gelingen.
Zeitung berichtet von heftigen Beleidigungen Anelkas gegen Domenech
Zur Halbzeit stand es 0:0, Frankreich machte keine gute Partie. "Ich ging frustriert in die Umkleide zur Halbzeit. Ich dachte mir: Wir spielen schlecht. Ich bekomme den Ball nicht zugepasst", erinnerte sich Anelka zurück.
In der Kabine schrie Domenech den heute 41-Jährigen vor versammelter Mannschaft an – die Situation eskalierte und es kam zum Wortgefecht. "Da kam die Frustration aus mir heraus. Ich habe nicht eingesehen, dass ich der Sündenbock sein sollte. Als wäre ich der Staatsfeind Nummer eins", so Anelka. "Ich habe mich angegriffen gefühlt."
Anelka wurde ausgewechselt, Frankreich verlor am Ende 0:2 und hatte so nur mit einem Kantersieg am letzten Gruppenspieltag gegen Südafrika noch eine Chance aufs Weiterkommen.
Der Konflikt zwischen Domenech und Anelka geriet an die Medien. Die L'Equipe titelte am nächsten Morgen mit den Worten, die Anelka zu Domenech gesagt haben soll – und die hatten es in sich: "F*** dich, du dreckiger H****sohn!"
Imago Images / PanoramiCBild: Imago Images / PanoramiCGanz Frankreich war in Aufruhr, sogar Staatspräsident Nicolas Sarkozy mischte sich ein. "Wenn die Berichte stimmen, ist das völlig inakzeptabel", wurde er deutlich. Es gab nur noch dieses eine Thema. Um den Fokus wieder auf das Sportliche richten und die Minimalchance auf das Weiterkommen wahren zu können, baten die beiden Führungsspieler Patrice Evra und Eric Abidal Trainer Domenech und Anelka zum Acht-Augen-Gespräch.
"Er sagte zu", sagte Anelka. Doch Domenech erschien nicht, er machte sich sogar aus dem Staub. "Alle haben nach ihm gesucht, damit wir die Sachen zwischen ihm und Nicolas klären konnten", fügte Verteidiger William Gallas an.
Auch ohne Klärungsgespräch schloss der französische Verband Anelka mit sofortiger Wirkung aus, nachdem Domenech den Vorfall gegenüber den Verbandsverantwortlichen bestätigt hatte.
"Alle, die mich kennen, wissen genau: Wenn ich tatsächlich solche Worte geäußert hätte, dann hätte ich dafür gerade gestanden", wurde Anelka deutlich. Auch Gallas betonte, in der Umkleide niemals derartige Worte aus Anelkas Mund gehört zu haben.
Französische Mannschaft stellt sich hinter Anelka - und gegen Domenech
Dennoch musste der Stürmer abreisen. Die Mannschaft war mit dieser Maßnahme jedoch nicht einverstanden, weil alle Spieler wussten, was in der Kabine wirklich vorgefallen war. Sie boykottierten das Training.
"Die französische Nationalmannschaft stellt sich geschlossen gegen die Entscheidung des französischen Fußballverbands, Nicolas Anelka von der Teilnahme an der WM auszuschließen. Der Versuch eines Klärungsgesprächs zwischen dem Spieler und dem Trainer wurde vonseiten des Trainers ignoriert", las ein angefressener Domenech damals einen offenen Brief des Teams vor. Der Skandal nahm seinen Lauf.
Frankreich verlor auch das letzte Spiel gegen den Gastgeber Südafrika, doch das interessierte niemanden. Anelka wurde weiterhin von der Öffentlichkeit als der Schuldige hingestellt, die Nationalmannschaft als "gekaufte Spieler" bezeichnet, die nur ihre eigenen Interessen verfolgten. Die damalige Gesundheitsministerin Roselyne Bachelot sprach in der Nationalversammlung sogar von "unreifen Bengeln".
Acht Jahre später: Domenech gibt Anelkas Unschuld zu
Südafrika wurde zu einem schwarzen Kapitel in der Fußballgeschichte Frankreichs – und es wurde Jahre später noch düsterer. Anelka klagte wegen übler Nachrede durch Wort oder Schrift gegen die L'Equipe, "weil das nicht die Worte sind, die ich gesagt habe". Er wollte sein Bild in der Öffentlichkeit wieder gerade rücken.
"Die Wahl der Titelseite, obwohl zweifellos spektakulär, sogar reißerisch, fällt in den Spielraum journalistischer Redefreiheit. Dies darf durchaus mit Übertreibungen und sogar Provokationen einhergehen", lautete das Urteil. Anelka war fassungslos.
Domenech selbst setzte der ganzen Geschichte acht (!) Jahre später die Krone auf, als er in der Dokumentation "Selectionneurs" über den Vorfall mit Anelka sprach. "Natürlich gibt es manchmal hitzige Diskussionen mit den Spielern in den Umkleidekabinen. Er hat aber definitiv nicht das gesagt, was in der Zeitung stand", schockte der heute 68-Jährige Fußball-Frankreich.
Der Trainer wies demnach seinen Stürmer in der Halbzeit an, er solle auf seiner Position bleiben. "Er hatte einen Schuh in der Hand. Er warf ihn auf den Boden und sagte: 'Kümmere dich selbst um dein scheiß Team'", schilderte Domenech den Disput. Zu einer Beleidigung seiner Mutter kam es also nie.
Das Spiel gegen Mexiko sollte nach 69 Länderspielen Anelkas letzter Einsatz für sein Heimatland sein – er hatte die Katastrophe schon vor der WM kommen sehen. Er dachte allerdings, sie würde sportlicher Natur sein.