In einem Interview mit der Gazzetta dello Sport am vergangenen Dienstag vor dem 3. Spieltag in der Gruppenphase der Champions League behauptete Ajax-Legende Ruud Krol, dass derzeit keine Mannschaft in Europa besseren Fußball spiele als die SSC Neapel. Am folgenden Abend unterstrichen die Italiener diese Aussage, indem Ajax mit 6:1 aus dem eigenen Stadion geschossen wurde.
Weltfußballer Marco van Basten nannte es ein "Massaker", Napoli-Mittelfeldspieler Piotr Zielinski entschied sich für den Ausdruck "magisch", während der stets positive Aurelio De Laurentiis eine "kosmische Darstellung" einer "hervorragenden Truppe" bejubelte.
Wie auch immer man es nennen möchte, es war ein umwerfendes Spiel, das unheimlich unterhaltsam anzusehen war. Sogar Fabio Capello war beeindruckt.
Die italienische Trainer-Legende ist seit längerem dem Profi-Fußball fern, daher war er überwältigt von dem, was er in ebenjener Nacht zu Gesicht bekam. "Napoli hat gerade eine Fußballlehrstunde in der Johan Cruyff Arena gegeben", sagte er bei Sky Sport Italia. "Eine Lektion für die Niederländer, die uns anderen einst das Fußballspielen beigebracht haben!" Im Rückspiel gab es dann übrigens einen weiteren Sieg für die Italiener.
Das Social-Media-Team von Ajax hatte schon das Hinspiel im Vorfeld wunderbar aufgepeppt, indem es ein bewegendes Bild von Cruyff und Diego Maradona veröffentlichte, die beide auf dem Trainerstuhl saßen, um das Champions-League-Duell zu verfolgen.
Nächstes Spiel
Der Telegraaf kommentierte daran angelehnt danach, dass "Napolis spektakuläres Spiel in Amsterdam Maradona sicherlich verzaubert hätte, Cruyff jedoch zweifellos sehr beunruhigt gewesen wäre über die Leistung von Ajax, das zum Gespött Europas wurde."
Indes war van Basten, eine andere Ajax-Ikone, sowohl verlegen als auch wütend und kritisierte seinen ehemaligen Verein, weil er "im Sommer auf seltsame und verrückte Weise 100 Millionen Euro ausgegeben hatte. Irgendetwas stimmt nicht."
Napoli machte im Sommer alles richtig
Napoli hingegen machte während des Transferfensters alles richtig, wobei Klubpräsident De Laurentiis und Sportdirektor Cristiano Giuntoli einen Meisterstreich nach dem anderen hinlegten.
Tatsächlich ist Napoli trotz des Verlusts mehrerer Leistungsträger irgendwie gestärkt daraus hervorgegangen. Und die Blauen investierten dabei nicht einmal eine exorbitante Menge an Geld in neue Spieler.
Neapel gab knapp 60 Millionen Euro aus und ersetzte den ehemaligen Kapitän Lorenzo Insigne, den defensiven Dreh- und Angelpunkt Kalidou Koulibaly, den Star-Mittelfeldspieler Fabián Ruiz und den besten Rekordtorschützen des Klubs, Dries Mertens.
Napoli ist kein staatlich unterstützter Verein mit unerschöpflichen Ölgeldern und doch hat man nach vier Spielen in der Champions League dieser Saison mehr Tore (17) erzielt als jedes andere Team, einschließlich Manchester City um Erling Haaland (11). Da ist es nicht verwunderlich, dass Luciano Spallettis Team zu so etwas wie der trendigsten Mannschaft Europas avanciert ist.
Während des Interviews nach dem Ajax-Spiel musste der Journalist Spalletti irgendwann fragen, ob er mit dem Ergebnis eigentlich zufrieden sei. Das war er. Natürlich. Minuten zuvor hatte er seinen Spielern ein Kompliment für eine "wunderschöne" Leistung gemacht, bevor er sie dann sofort daran erinnerte, dass sie noch nichts erreicht haben. Seine Gedanken waren bereits beim nächsten Spiel gegen Cremonese. Es würde hart werden, warnte er. Und er hatte recht.
Die SSC Neapel gewann mit 4:1, aber das Ergebnis sah am Ende besser aus als das Spiel des formstarken Teams eigentlich war. Spalletti erläuterte gegenüber DAZN: "Es wurde ein Kampf auf einem Niveau, das unseren Eigenschaften nicht entspricht. Wir konnten den zweiten Ball nicht oft genug bekommen und es wurde ein Match, an das wir nicht gewöhnt waren. Die Mannschaft verlor jedoch nie den Kopf, unser Ansatz wurde also am Ende belohnt."
Napoli macht nicht nur Spaß, sondern könnte auch Großes gewinnen
Und das erinnert an einige der Gründe, warum viele Experten glauben, dass Napoli nicht nur Spaß macht, sondern auch Großes gewinnen kann. Immerhin haben die Partenopei nun zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte neun Spiele in Folge in allen Wettbewerben gewonnen.
Man steht an der Tabellenspitze der Serie A, nachdem bereits Titelverteidiger AC Mailand im San Siro geschlagen wurde. Und alle vier Champions-League-Spiele wurden siegreich bestritten, darunter ein furioser 4:1-Sieg gegen den FC Liverpool.
Spallettis Fähigkeit, eine Mannschaft dazu zu bringen, guten Fußball zu spielen, stand ohnehin nie wirklich in Frage. Er gilt seit langem als guter Taktiker – sein stürmerloses System bei der AS Rom, das Francesco Totti zu einem überaus erfolgreichen Torschützen machte, war eine Inspiration für Sir Alex Ferguson.
Es bleibt jedoch die Frage, ob Spalletti wirklich in der Lage ist, große Titel zu gewinnen. Er hat zwar zwei Titel in der russischen Premier League mit Zenit gewonnen, aber für den Scudetto hat es noch nicht gereicht.
Und beachtliche Saisonstarts sind ihm auch nicht fremd. Man muss bedenken: Napoli war die meiste Zeit der Hinrunde der letzten Saison an der Spitze. Auch am 27. Spieltag standen sie sowohl vor Milan als auch vor Inter, nur um drei ihrer nächsten sieben Spiele zu verlieren – darunter eine 0:1-Heimniederlage gegen den späteren Meister. Am Ende reichte es für den dritten Platz.
Napoli: Die Tiefe des Kaders macht den Unterschied
Der Unterschied könnte diesmal jedoch in der qualitativen Tiefe des Kaders liegen.
Getty/GOALZum Beispiel galt der vorübergehende Verlust von Victor Osimhen aufgrund einer Verletzung während des Spiels gegen Liverpool als schwerer Schlag für Napoli, inzwischen wird der nigerianische Mittelstürmer aber kaum vermisst. Die SSC hat sechs Spiele ohne den Nigerianer gewonnen und die Neuverpflichtungen aus dem Sommer, Giacomo Raspadori und Giovanni Simeone, haben in der Zwischenzeit Blut geleckt.
Natürlich war es von Vorteil, Khvicha Kvaratskhelia im Team zu haben – Liverpool-Star Trent Alexander-Arnold ging gegen den Flügelflitzer förmlich unter. Die Zehn-Millionen-Euro-Verpflichtung von Dinamo Batumi scheint bereits der beste Transfer des Sommers zu sein und könnte Neapel über die gesamte Saison enorm guttun.
Im Mittelfeld ist André-Franck Zambo Anguissa neben Zielinski und Stanislav Lobotka eine Offenbarung. Sogar Tanguy Ndombélé, die Leihgabe von Tottenham, lässt seine Qualitäten schon kurzzeitig aufblitzen.
Napolis Schlüsselspieler kommt jedoch wohl aus der Verteidigung. Koulibaly wurde lange Zeit als unersetzbar angesehen und doch gehört nun unter anderem Inter-Ikone Beppe Bergomi zu denen, die glauben, dass Kim Min-jae in bestimmten Bereichen tatsächlich besser ist als der Senegalese.
Spalletti tut natürlich alles, um sich und seine Spieler von all diesen Lobeshymnen fernzuhalten. Es ist noch ein langer Weg und es ist eine Saison wie keine andere mit einer Weltmeisterschaft mittendrin.
Getty/GOALSind Napoli und Spalletti also der Herausforderung gewachsen? Sowohl ihr Kader als auch ihr Können werden in den kommenden Wochen und Monaten auf den Prüfstand gestellt.
Aber Kvaratskhelia machte deutlich, dass es für Napoli "keine Grenzen" gibt. Auch Raspadori ist fest davon überzeugt, dass sie noch besser spielen können als in Amsterdam.
Napoli: "Sogar Maradona wäre stolz gewesen"
"Es ist ein Team voller großartiger Spieler", sagte er dem Corriere dello Sport. "Wenn wir so weitermachen, können wir uns höhere Ziele setzen, als alle denken."
Klar ist jetzt natürlich: Es gibt kein Verstecken mehr – und Spalletti hat eindeutig ein Team, das in der Lage ist, den Scudetto zu gewinnen und um die Champions League zu kämpfen.
Er weiß es auch. Gegen Ende seiner Pressekonferenz nach dem Spiel in Amsterdam gab er fast widerwillig zu: "Heute Abend haben wir einige Spielzüge gemacht, die wirklich schön anzusehen waren. Sogar Maradona wäre stolz auf uns gewesen."
Es ist sicherlich eine schöne Vorstellung, dass San Diego und Cruyff auch das spektakuläre Rückspiel (4:2 für Neapel) aus dem Jenseits verfolgt und sich vor allem an Napolis Fußball erfreut haben. Denn fußballerisch gibt es derzeit in Europa vermutlich wirklich keine bessere Mannschaft als die SSC Neapel.