HINTERGRUND
Es ist einer dieser typischen Novembertage. Der graue Himmel über Berlin-Kreuzberg öffnet seine Schleuse, lässt den Regen zunächst nieselnd, später großtropfig auf das Dach des flachen Backsteingebäudes prasseln. Oberhalb des Eingangs prangt ein blauer Schriftzug, der sich in der kleinen Pfütze auf dem asphaltierten Boden spiegelt. Er gibt den entscheidenden Hinweis für die Besucher, dass sie hier richtig sind: TÜRKIYEMSPOR.
Im Inneren des Vereinsheimes herrscht genau das Gegenteil von spätherbstlicher Tristesse. Viele Kinder haben sich versammelt, ihre Eltern unterhalten sich angeregt. Klubverantwortliche huschen umher, treffen letzte Vorbereitungen. Es ist ein besonderer Tag für Türkiyemspor. Fritz Keller, seit Ende September neuer Präsident des DFB, stellt gemeinsam mit der Staatsministerin für Integration, Annette Widman-Mauz, und dem DFB-Integrationsbeauftragten Cacau das neue, überarbeitete Integrationskonzept des Verbandes vor.
GettyEs ist kein Zufall, dass man sich dabei ausgerechnet an der Spielstätte Türkiyemspors trifft. Der 1978 als BFC Izimirspor gegründete Klub zählt zu den ältesten und bekanntesten Migrantenvereinen Deutschlands und war der Premierengewinner des 2007 ins Leben gerufenen DFB-Integrationspreises.
DFB-Präsident Fritz Keller: Türkiyemspor ist ein Leuchtturmverein für Integration"
"Türkiyemspor ist ein Leuchtturmverein für Integration sowie für Frauen- und Mädchenfußball", sagt Keller im Gespräch mit DAZN. Der gebürtige Freiburger ergänzt: "Der Klub hat einen Platz und 400 aktive Fußballer. Die Hälfte davon sind Frauen und Mädchen. Von der Kreisklasse bis zur Bundesliga kann jeder Verein davon lernen, wie man mit einfachen Mitteln Mädchen- und Frauenfußball fördert. Ich kenne keinen anderen Klub, das ist also einzigartig."
Dass derart namhafter Besuch am Günter-König-Sportplatz vorstellig wird, um das Engagement der Berliner zu honorieren, freut natürlich auch die Protagonisten von Türkiyemspor. "Um unsere Arbeit nach außen zu repräsentieren, sind solche Auszeichnungen sehr gut. Es ist schon eine große Ehre, wenn der DFB-Präsident zu einem Amateurklub wie unserem kommt und uns so viel Aufmerksamkeit schenkt", erklärt Murat Dogan, Abteilungsleiter Frauenfußball bei Türkiyemspor.
Er gibt aber zu bedenken: "Wir werden immer auf Integration begrenzt. Aber wir als Verein sind viel mehr. Wir leben alle teilweise in der vierten oder fünften Generation hier. Wir leben in einem Land, in dem wir uns wohl fühlen. Wir müssen uns nicht mehr integrieren." Tatsächlich bietet Türkiyemspor seit Jahrzehnten eine sportliche Heimat für Menschen aller Religionen, Hautfarben und sozialen Schichten. "Die DNA des Vereins ist die Vielfältigkeit. Wenn wir das verlieren, verlieren wir unsere Seele", sagt Dogan. "Das muss allen Mitgliedern bewusst sein."
Seit 2004 hat Türkiyemspor noch einmal an Vielfältigkeit dazugewonnen. Damals war Dogan federführend bei dem Bestreben, eine Abteilung für Mädchen- und Frauenfußball zu etablieren. "Ich habe damals auf der Geschäftsstelle die Anmeldungen bearbeitet. Einmal kam ein älterer Herr rein und fragte, ob wir nicht ein Angebot für seine Enkeltochter hätten, weil die ihm zuhause mit dem Ball die Fenster kaputt schieße", erinnert er sich und schiebt nach: "Damit hat er uns auf eine Idee gebracht. Wir hatten damals keinen Raum für Mädchen in unserem Verein, auch in der Umgebung gab es kaum etwas. Dann haben wir ein Konzept erstellt. Wir wollten innerhalb von fünf Jahren eine komplette Mädchen- und Frauenfußballabteilung schaffen. Das ist uns gelungen."
Dabei hat Dogan eigenen Angaben zufolge nicht nur Zuspruch für seine Idee erhalten. "Die Ablehnung war erst einmal groß. Wir hatten damals nur einen Platz, aber um die 30 Teams im Jungen- und Herrenbereich", sagt er. "Und dann brauchten wir auf einmal Trainingszeiten. Der Vorbehalt war dann auch, dass Mädchen ja kein Fußball spielen können." Ein klassisches Ressentiment in Bezug auf Frauenfußball. Davor war selbst der traditionell liberale, weltoffene Klub nicht gefeit. Immerhin: "Die Vorurteile wurden aber schnell aufgebrochen. Mittlerweile ist es selbstverständlich, dass Jungen und Mädchen zusammen auf dem Platz trainieren", stellt Dogan klar.
Türkiyemspor-Spielerin Karla Krüger: "Zu Beginn sind wir immer Letzter geworden"
Karla Krüger zählte damals zu den ersten, die sich dem neuen Mädchenteam Türkiyemspors anschlossen. "Meine Mutter kannte jemanden, der bei Türkiyemspor die Stadionzeitung produziert hat. Über ihn hat sie mitbekommen, dass der Verein eine Mädchenmannschaft aufmacht", erzählt sie DAZN. "Ich erinnere mich noch, dass beim ersten Training gerade einmal fünf Mädchen da waren." Es habe sofort gepasst, trotz kleiner Gruppe und obwohl die sportlichen Erfolgserlebnisse anfangs noch rar gesät waren. "Zu Beginn sind wir immer Letzter geworden, haben in der Liga nur zweistellig verloren. Irgendwann haben wir dann nur mal 1:3 verloren. Das war schon ein Erfolg."
Wie viel sich in den vergangenen 15 Jahren getan hat, zeigt die derzeitige Lage. 220 Mädchen und Frauen spielen bei Türkiyemspor, im Seniorinnenbereich tritt die ambitionierte erste Mannschaft in der Verbandsliga an, während die Zweitvertretung und die Dritte (Sieben-gegen-Sieben-Modus) in der Bezirksliga zum Einsatz kommen. An die zweistelligen Niederlagen von einst ist mittlerweile nicht mehr zu denken, die erste Mannschaft führt die Tabelle der Verbandsliga nach 14 Spielen mit 39 Punkten und einem Torverhältnis von 89:9 souverän an und ist damit auf dem besten Wege, in die Regionalliga aufzusteigen.
Der geplatzte Bundesliga-Traum
"Ich habe den Traum, irgendwann einmal mit den Frauen in der Bundesliga zu spielen", sagt Dogan. "Aber wir haben auch eine Verantwortung. Wollen wir, dass wir in der Bundesliga spielen und uns komplett vermarkten müssen? Da dürfen wir es auf unserem Weg nicht übertreiben. Der Sport soll so bleiben, wie er ist." Dogan weiß genau, wie schnell hochgesteckte Ziele auch kontraproduktive Dimensionen annehmen können. Mitte der 1980er Jahre schickte sich der Klub an, in die 2. Bundesliga aufzusteigen, unterlag im entscheidenden Spiel aber deutlich.
"Uns fehlte nur ein Punkt. Alle waren sich sicher, dass es gelingen wird. Und dann verlieren wir mit 0:5." Man sei damals an dem Ziel, in die höchste deutsche Spielklasse aufsteigen zu wollen, gescheitert. "Wir hatten zu schnell sportlichen Erfolg, aber die Strukturen sind dabei nicht mitgewachsen", sagt Dogan. "Viele deutsche Verein haben 100 Jahre Erfahrung. Wir waren erst 20 Jahre alt und kurz davor, in die 2. Bundesliga aufzusteigen. Aber wir haben drumherum keine professionellen Strukturen gehabt. Das war für uns eine Herausforderung."
Finanziell ging es für Türkiyemspor nach dem verpassten Aufstieg langsam, aber stetig bergab, wie Dogan erklärt. "2013 mussten wir Insolvenz anmelden. Und jetzt müssen wir neue Wege bestreiten. Dass wir mit den Herren noch einmal eine Chance auf einen Aufstieg in die Bundesliga haben werden, das wird es nicht mehr geben. Es sei denn, ein Sponsor investiert 100 Millionen. Aber mit unseren Mitteln wird es nicht ausreichen." Dementsprechend setzt Dogan umso größere Hoffnungen in den Damenfußball. "Die Männer haben es nicht in die Bundesliga geschafft. Warum sollte es nicht den Frauen gelingen?"
DAZNDoch nicht nur aus sportlicher Sicht hat bei den Damen von Türkiyemspor eine enorme Entwicklung stattgefunden. Auch mit Blick auf Zusammenhalt und Wertevermittlung gehen die Spielerinnen neue, innovative Wege. Bei einer Sommerfahrt kam die Idee, dass die kleineren Mädchen jeweils eine erwachsene Spielerin, also eine Art Patin, an die Seite gestellt bekommen sollten. "Die Grundidee war es, Vorbilder zu schaffen", sagt Dogan und führt aus: "Wir haben einfach beschlossen, dass wir kleinen Mädchen eine erwachsene Spielerin an die Hand geben. Die jungen Spielerinnen haben sich jemanden ausgewählt. Und allein aus diesem einen Treffen haben sich bei vielen Patenschaften privat sehr enge Beziehungen entwickelt."
Das "Abla-Programm" von Türkiyemspor Berlin
Krüger, die für die erste Mannschaft spielt, denkt an jene Zeit zurück. "Auf einer Sommerausfahrt waren unglaublich viele kleine Mädchen dabei und nur wenige Eltern. Für die drei Trainerinnen war das anstrengend. So haben die älteren Spieler ein jüngeres Mädchen zum Aufpassen an die Hand bekommen." Abla, türkisch für große Schwester, haben sich die Frauen als Namen für das Programm überlegt. "Erst ging es nur darum, zu schauen, dass sie zum Beispiel richtig Ihr Brot schmieren. Aber wir haben schnell gemerkt, dass die kleinen Mädchen immer zu uns Frauen aufschauen, uns vieles nachmachen. Meine 'kleine Schwester' ist nun schon seit fünf Jahren an meiner Seite und wir machen vieles außerhalb des Platzes gemeinsam."
Auch Toya Bock, wie Krüger Türkiyemspor-Spielerin der ersten Stunde, schwärmt im Gespräch mit DAZN von dem Konzept. "Ich glaube schon. Unsere Gegnerinnen merken bei den Spielen, wie verrückt wir sind und wie groß der Zusammenhalt ist", sagt sie auf die Frage, ob das Abla-Programm als Paradebeispiel für andere Klubs dienen könne. "Meine 'kleine Schwester' ist beinahe zu meiner richtigen Schwester geworden. Ich bin stolz, wie sie sich entwickelt hat, mit einer klaren Willensäußerung und vor allem auch wie sie Fußball spielt."
Dass die Frauen bei Türkiyemspor mit ihrem Engagement gesellschaftlich wichtige Ausrufezeichen setzen, ist auch Sportartikelhersteller Nike nicht entgangen. Auch dank des Abla-Konzeptes partizipiert die Damenmannschaft neben Superstars wie Leroy Sane oder Mario Götze an der neuen Kampagne "Helden", die mit ihrem Slogan "Du tust es nie nur für Dich" vermittelt, wie wichtig Vorbilder im Sport sind.
"Das ist eine Sache, die mich richtig stolz macht. Die Möglichkeit zu haben, unsere Message in dieser Art und Weise nach draußen zu bringen, hätten wir so nicht bekommen. Teil dieser Nike-Kampagne zu sein, kann man nicht mit Worten beschreiben", freut sich Dogan. Krüger ergänzt: "Das zeigt, dass Nike dem Thema Gewicht schenkt."
Ein Thema, das Mut machen soll. In Zeiten zunehmender Zwietracht, in Zeiten wachsender digitaler und analoger Hassschürung, in Zeiten, in denen Alltagsrassismus wieder Einzug in die Gesellschaft erhält. Die Damenmannschaften von Türkiyemspor tragen stolz folgenden Leitsatz auf ihren Trikots: "Bewege mehr als den Ball - bewege die Welt."
Daran arbeiten Murat Dogan, Karla Krüger, Toya Bock und all die anderen Weltbeweger von nebenan. Jeden Tag – unermüdlich und ehrenamtlich.